#Writing Friday: Wie sich die Sonne anfühlt

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Samstags in der Fußgängerzone. Ein frühlingslauer Tag. Der erste Sonnentag nach zwei Wochen Dauerniesel, grau, feucht, kalt. Jetzt durchatmen, aufatmen wie befreit. Wie magnetisch von der Sonne angezogen, eilen die Menschen nach draußen. Frauen, Männer, Kinder, Alte und Junge, miteinander, durcheinander, allein. Endlich Wärme, endlich Helligkeit, endlich. Quirliges Treiben, Ströme von Menschen, Lachen, Erwartung – in der Luft liegt Leichtigkeit, einladend, heiter. Alles ist voll, dicht gedrängt. In den Straßencafés sind die Stühle belegt. Auf der Suche nach Erholung die einen, müde vom geschäftigen Hin und Her. Die anderen müßig; sie genießen die Sonne, das Nichtstun. Stimmen – hohe und tiefe – Vogelgezwitscher, Musik, Rufe, Fahrradklingeln – all das vereinigt sich zu einem Klangteppich, der über den Köpfen schwebt, die Menschen einhüllt.

Dazwischen, seltsam unberührt von der Umgebung, zwei Menschen. Ein junger Mann und ein kleines Mädchen. Beide für sich, wie in einem schützenden Kokon. Der junge Mann hat einen Stock in der Hand, mit dem er langsam und bedächtig die Flächen vor sich abtastet, um dann sicher Schritt für Schritt zu setzen. Er ist allein, beschäftigt, kommt wegen der Fülle nur langsam voran. Das kleine Mädchen, sie mag etwa 5 Jahre alt sein, verspielt, im Spiel versunken. Sie hat die Erlaubnis ihrer Oma, sich in Sichtweite aufzuhalten. Erst hat sie mit Kieseln gespielt – Muster gelegt und wieder verworfen. Dann sang sie vor sich hin und hüpfte den Takt zu ihrem Lied. Nun betrachtet sie das Geschehen um sich herum. Der junge Mann mit dem Stock fesselt ihre Aufmerksamkeit. Sie sieht ihm zu. Verwirrt. Das hat sie vorher noch nie gesehen. Was tut er da? Sie sieht, wie er hier anstößt und dort, wie er stehen bleibt, tastet, weitergeht, seinen Weg durch die Massen hindurch findet. Längst ist sie ganz ruhig geworden, ist nur noch Schauen, bloßes Staunen.
Plötzlich dringt etwas durch ihren Kokon, reißt sie aus ihrer Konzentration. Zunächst weiß sie gar nicht, wohin sie schauen soll – dann fällt ihr Blick auf zwei Jungs. Älter, deutlich älter als sie und um vieles größer. Sie rennen; jagen sich um Bäume, Menschen, Tische, haben Spaß. Sie sind ebenfalls versunken – kein Auge für andere, anderes. Die Kleine erstarrt vor Schreck, weiß nicht warum, spürt nur Gefahr. Instinktiv sucht sie nach dem jungen Mann. Wo ist er, wo? Sie sieht ihn nicht, fahndet weiter. Dahinten, da ist der Stock. Jetzt hat sie ihn wieder. Schaut ihn an, schaut ihm zu.

Im selben Moment rennt einer der Jungs von hinten in den Mann hinein. Er schreit, fällt, fällt, schlägt auf. Die Kleine beobachtet es, sieht ihn fallen, hört ihn aufschlagen. Rennt los. „Nein“, schreit sie. Stille. Kein Gedanke mehr an die Oma oder dass sie in Sichtweite bleiben soll. Hin zu ihm, der sich doch sicher wehgetan hat. Völlig außer Atem ist sie, als sie bei ihm ankommt. „Hast du dir wehgetan“, fragt sie und streckt die Hand aus, um ihm über den Kopf zu streichen, wie es ihre Mama tut, wenn sie sich wehgetan hat.
Er hört die helle, junge Stimme, nimmt die tröstende Berührung wahr. Langsam dreht er sich auf den Rücken, dann setzt er sich auf. Sucht nach Halt, findet ihn an einer Hauswand, lehnt sich an. Dreht den Kopf, sucht. „Wo bist du, Kleine? fragt er. „Da bin ich doch“, sagt sie und schaut ihm mitten ins Gesicht. „Siehst du mich denn nicht?“ Verwundert schüttelt sie den Kopf. Zögernd kommt die Antwort: „Nein, ich sehe dich nicht. Ich sehe gar nichts!“

Vergessen ist der Sturz, unwichtig die Frage nach dem Schmerz, belanglos das Blut im Gesicht und an der rechten Hand. Die Kleine hört nur noch sein <ich sehe gar nichts>. Immer wieder <ich sehe nichts, ich sehe nichts.> Sie lässt sich neben ihm nieder. „Du siehst wirklich gar nichts“, fragt sie; ungläubig, erstaunt. „Nein, gar nichts!“, antwortet er.

Es entsteht eine lange Pause. Er schweigt, lässt der Kleinen Zeit, hört an ihrem Atem, dass sie da ist. Ganz leise kommt die Stimme der Kleinen: „Ich kann alles sehen. Soll ich dir erzählen, was ich sehe?“ Und dann schildert sie die gelbe Sonne und den blauen Himmel mit den weißen Wölkchen. Sie spricht von Vögeln, die herumfliegen, von den vielen Menschen und von dem, was sie tun. Sie erzählt von Bäumen, die knospen, von ersten Frühlingsblumen, von den Kieseln, mit denen sie gespielt hat, von den Männern, die ihre Instrumente ausgepackt haben und musizieren. Er hört zu – aufmerksam, ganz im Augenblick. Mit der Kleinen zusammen wie auf einer einsamen Insel, nur sie beide, inmitten all des Gedränges. Unantastbar, eine kleine Einheit, miteinander verbunden. Dann sagt er bedächtig: „Du hast mir von so vielen Dingen erzählt. Manches kann ich hören – die Musik, die Vögel, das Gelächter. Ich kann auch das Gedränge spüren und ich fühle Leichtigkeit. Aber kannst du mir sagen, wie sich die gelbe Sonne und der blaue Himmel, die Kiesel und die knospenden Bäume anfühlen?“

Lang denkt die Kleine nach, dann nimmt sie seine Hände und zeichnet mit ihnen einen großen Kreis. „Das ist die Sonne“, erklärt sie ihm, „und wenn ich sie ansehe, muss ich blinzeln und die Augen schließen, weil sie blendet. Und gelb, gelb das ist warm. So warm, wie wenn du deine Hände fest aneinander reibst. Mach mal“, fordert sie ihn auf. „Der blaue Himmel, der ist weit und hoch“ – sie nimmt seine Hände erst weit auseinander und dann hoch – „und mit seinen kleinen weißen Wolken ist er wie ein weiches Bett.“ Sie schaut ihn an, holt tief Luft, redet weiter. „Die Knospen an den Bäumen, da sind viele zu, aber manche schon ein Stück auf und ich kann grün sehen.“ Sie legt seine Hände übereinander, die Daumen sind überkreuzt, dann lässt sie ihn die Hände schnell öffnen. „Die Knospe platzt auf und das Grün schaut heraus. Grün ist wie, wie – wie ein frischer Wind, der dir an einem heißen Tag kühl ins Gesicht bläst.“ Wieder eine Pause, länger dieses Mal. Er spürt, etwas ist anders. Noch ehe er genau sagen kann, was sich verändert hat, ist wieder alles beim Alten. Die Kleine ist zurück, bringt ihm von den Kieseln, mit denen sie gespielt hat. Sie drückt ihm welche in jede Hand und sagt: „Die kannst du selbst spüren – und du darfst sie behalten, dann kannst du sie wieder spüren, wenn du magst.“

Ein langes Schweigen folgt. Er ringt um Fassung, hat einen Kloß im Hals, kann kaum sprechen. Eine Mischung aus Freude und Dankbarkeit, Rührung und Verletzlichkeit breitet sich in ihm aus. Lang schon hat er so etwas nicht mehr gespürt. Dieses unverkrampfte Miteinander begegnet ihm selten. Er weiß, diese Begegnung wird er nicht vergessen. Die Kleine hockt neben ihm, schaut ihn unverwandt an, ist ganz ruhig. Nimmt wahr, wie bewegt er ist. Weder er noch sie haben bemerkt, dass sie nicht mehr allein sind. Schon seit geraumer Zeit stehen einige Menschen um sie herum, haben mit angehört, was sie gesprochen haben. Keiner bewegt sich, niemand sagt etwas – bloß diesen dichten Moment nicht zerstören. Alle sind sie angerührt. Ihr Tag bekommt eine andere Färbung, einen anderen Klang. Das Schweigen fesselt sie aneinander, für einen Augenblick entsteht zwischen diesen Fremden eine Gemeinschaft: das Wissen, Beschenkte zu sein.

 

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Wenn Du magst, beschreibe Du einer blinden Person den Frühling.

Foto: © Grundler, Überlingen

 

Die Geschichte stammt aus meinem Buch „Im Nachthemd tanzen“ (und andere Geschichten).

 

Hier kommt ein Beitrag zum #WRITING FRIDAY von https://readbooksandfallinlove.com/category/meine-wochenaktionen/writing-friday/, den ich bei  https://kathakritzelt.com/ entdeckt habe. Heute habe ich mich dafür entschieden: Beschreibe einer blinden Person den Frühlingsanfang.

10 Kommentare
    • mutigerleben
      mutigerleben sagte:

      Jetzt werd ich doch glatt ein wenig rot…
      Ich liebe den Text; er ist schon ein wenig älter (mein Buch ist ja 2017 erschienen) – und er war, als ich ihn geschrieben habe, auch für mich etwas ganz besonderes.
      Herzliche Grüße, liebe Katharina,
      Judith

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