abc.etüden 19/20: Geheimnisse (Fortsetzung)

Der Katamaran dümpelt auf dem Meer. Elsa und Anna sind verzaubert vom Sonnenuntergang und von der Stille, die sich über ihren Ankerplatz senkt.

Annas Gedanken dümpeln auch. „Ach, Anna“, sagt Elsa und legt ihrer Schwester den Arm um die Schulter, „du grübelst schon wieder.“ Anna seufzt. „Ich kann nicht anders. Wie konnten sie unser Leben lang totschweigen, dass ich nicht ihr Kind bin? Was soll ich jetzt tun? Mein ganzes Leben ist eine Lüge. Sie sind nicht meine Eltern und du bist nicht meine Schwester“. Elsa schweigt. Sie zieht Anna ein wenig näher.
„Ich weiß nicht, wer ich bin und woher ich komme. Ich weiß nichts. Sie haben mir alles genommen! Wenn ich den doofen Ordner nicht gefunden hätte, wüsste ich es immer noch nicht.“ Elsa schaut Anna an. „Ich verstehe dich ja, Anna. Ja, du bist adoptiert. Ja, du kennst deine leiblichen Eltern nicht. Mama und Papa haben dir gesagt, weshalb sie so gehandelt haben. Sie unterstützen dich bei der Suche nach deinen Eltern, wenn du willst. Und ich bin auch da – die Schwester, die ich immer war“.
„Trotzdem“, jammert Anna. „Sie haben mir alle Gewissheiten genommen.“

„Nein“, sagt Elsa, „das haben sie nicht. Es ist deine Entscheidung, was du denkst und glaubst. Weißt du, ich kann mich nicht erinnern, ob Mama schwanger war, ich war erst drei. Aber – daran werde ich mich immer erinnern – ich habe dich gesehen, da warst du ein paar Stunden alt. Du hast mich angeschaut. Ganz lang. Und seither bist du meine Schwester. Egal, was kommt.“

Sie springt auf. Zieht Anna hoch. „Komm, jetzt feiern wir das Leben“. Sie sieht übers Meer. Blickt hinauf zum Sternenhimmel und sagt großspurig: „Schau, Anna, das alles gehört nur uns!“

 

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5. Tag-8229

Foto: © Erwin Grundler, Überlingen

 

Maximal 300 Wörter, die die Begriffe<Katamaran, großspurig, totschweigen> enthalten müssen. Die Idee stammt von https://365tageasatzaday.wordpress.com/2020/05/03/schreibeinladung-fuer-die-textwochen-19-20-20-wortspende-von-olpo-olponator/

9 Kommentare
  1. Christiane
    Christiane sagte:

    Ja, und wenn sie ihre biologischen Eltern findet, dann hat sie eine Chance auf eine ganz andere Perspektive. Ganz interessant und gar nicht leicht. Aber wichtig ist dein Satz, dass es auch ihre Entscheidung ist, zu begreifen, dass sich nichts verändert hat, obwohl alles anders ist.
    Ich glaube übrigens nicht, dass man als Kind nicht mitbekommt, ob Mama schwanger ist, und ich denke, dass sie auf das Eintreffen eines Babys vorbereitet wurde, denn schließlich musste sie ab dem Moment alles teilen …
    Liebe Grüße, danke für die interessante Geschichte
    Christiane 😁⛅☕🍪👍

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    • mutigerleben
      mutigerleben sagte:

      Liebe Christiane,
      danke dir.
      Die Chance auf andere Perspektiven gibt es ja oft – nicht immer nutzen wir sie. Und ja, viele Menschen tun sich schwer damit, eine große Veränderung als einen Teil des Lebens zu sehen – und nicht als das Ganze.
      Ich bin bei dir, dass Kinder in der Regel natürlich etwas von Schwangerschaften mitbekommen. Aber: Die beiden sind schon ein paar Jahre alt – und früher ist das immer mal wieder vorgekommen, dass ein Adoptivkind quasi „Über Nacht“ gekommen ist. Da waren Eltern insofern vorbereitet, weil sie den Antrag gestellt hatten und auch diese Möglichkeit besprochen wurde etc., aber 2-/3-jährige Kinder konnte man darauf eben nicht vorbereiten. Man wusste oft nicht, wann es so weit sein würde.
      Herzliche abendgrüße
      Judith

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  2. Olpo Olponator
    Olpo Olponator sagte:

    Schwester im Geiste -zumindest für Elsa- das wäre doch was für Anna, selbst wenn sie kein Bruder im Geiste Elsas ist, im Moment (noch). Hoffen wir, daß sich das ändern kann/wird … ;-)

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    • mutigerleben
      mutigerleben sagte:

      Danke dir. Und dann stellt sich ja immer noch die Frage: Was macht uns zu Geschwistern und Eltern? Nur die Biologie?
      Ja, bislang wird das so vorausgesetzt – ber kann ich nicht jemandem auch Schwester (oder Mutter) sein, die/den ich vom Beginn des Lebens an kenne?
      Fragende Grüße
      Judith
      Judith

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