#abcEtüde 41/42/2020: Undankbar (Fortsetzung)

Und dann ist nur noch Schwärze um ihn herum.

Schwärze. Dicht gewobene Schwärze. Und Stille. Beides hüllt den Landvermesser ein. Empfängt ihn mit offenen Armen. Das laute NEIN, das über die Straße hallt, hört er nicht. Er fühlt nicht die Hand, die an seinem Hals nach dem Puls tastet. Spürt nicht die Tränen, die auf sein Gesicht fallen. Hört nicht das Martinshorn, das Stimmengewirr, den Befehl: zurück! Er merkt nichts von der rasenden Fahrt ins Krankenhaus. Sieht nicht die grüne Linie, die wieder Ausschläge auf den Monitor zeichnet.

Der Landvermesser ruht in den Armen der Schwärze. Wie ein Neugeborenes. Da gibt es keine Gedanken mehr. Bewertungen sind verschwunden. Alles, was ihn je gestört, geärgert, gefordert, herausgefordert hat – ist weg. Hier ist nur noch Wohlsein. Aufgehoben sein. Seelenruhe.

Und dann bekommt die Schwärze einen Riss. Stimmen dringen ein. Lichtstreifen zerfetzen sie. Konturen erscheinen. Unablässiges Piepen zerrt und zieht an ihm.
„Können Sie mich hören?“, hört er wieder und wieder. „Öffnen Sie die Augen!“
Langsam hebt er die schweren Lider. „Schön, dass Sie wieder zurück sind“, hört er eine helle Stimme sagen.  „Ich bin Ihre Ärztin. Ab jetzt geht es aufwärts, das Schlimmste haben Sie überstanden“. Sie drückt seine Hand und geht.
Antworten kann der Landvermesser nicht. Dafür melden sich seine Gedanken ganz laut: Wieso habt ihr mir die Schwärze genommen? Wie könnt ihr mich dieser Geschäftigkeit aussetzen? Ich will zurück.
Es ist ihm nicht vergönnt, das Leben hat ihn wieder.

„Du bist undankbar„, sagt sein Kollege, als er ihn Wochen später besucht. „Weißt du, was die Ärzte hier alles gemacht haben, um dich zu retten? Aber scheinbar hast du nichts dazugelernt“.
Mit einem „Tschüss“ geht der Kollege.

Der Landvermesser bleibt zurück. Allein. Der Trost der Schwärze bleibt ihm versagt.

 

|WERBUNG WEGEN NAMENSNENNUNG UND VERLINKUNG, UNBEZAHLT|

 

Wie würdest Du die Worte unterbringen?

Foto: © Erwin Grundler, Überlingen

Maximal 300 Wörter, die die Begriffe<Landvermesser, undankbar, aussetzen> enthalten müssen. Die Idee stammt von https://365tageasatzaday.wordpress.com/2020/10/04/schreibeinladung-fuer-die-textwochen-41-42-20-wortspende-von-werner-kastens/

7 Kommentare
  1. Christiane
    Christiane sagte:

    Schwierig. Darf man sich wünschen, in der Schwärze zu verbleiben, also tot zu sein?
    Da das aber nicht mehr zur Debatte steht, sollte man ihm wünschen, dass er lernen kann, wie er diesen Zustand innerer Ruhe erreicht – denn gestresst ist er ja auf jeden Fall …
    Morgenkaffeegruß 😁⛅☕👍
    Christiane mit Internetstörung 😕

    Antworten
    • mutigerleben
      mutigerleben sagte:

      Danke dir, Christiane.
      Ja, die Frage habe ich mir in der Tat auch gestellt, als die Sätze auf dem Papier erschienen sind.
      Entspannung lernen, zur Ruhe kommen und ein wenig Dankbarkeit – das wäre auf jeden Fall hilfreich und Not-wendend.
      Hoffe, deine Internetstörung ist behoben.
      Abendgrüße
      Judith

      Antworten
    • mutigerleben
      mutigerleben sagte:

      Liebe Katharina,
      ich glaube, dass das düstere Ende etwas mit dem düsteren Himmel, den wir morgens hatten, zu tun hatte. Oder auch nicht – wer weiß das schon.
      Als ich mit Schreiben angefangen habe, wusste ich noch nicht, wie es enden würde.
      Grüße
      Judith

      Antworten

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