Als Gott an den Glühweinstand kam…

Josef und die Engel warteten schon am Glühweinstand auf Gott. Sie war wieder einmal verspätet. „Wahrscheinlich hat sie sich wieder irgendein Klagelied angehört, das kennt man ja“, murrte der Erzengel Gabriel brummig. „Komm, reiß dich zusammen“, antwortete Josef und zeigte mit dem Finger hoch zur Straße: „Schau, da kommt sie doch schon!“ Josef lachte Gott zu und drückte ihr einen Becher Punsch in die Hand. „Zum Wohl“, sagte Josef, „wohl bekomms!“

„Auf die Menschen“, prostete Gott zurück und probierte den Punsch. „Hm, lecker“. Zufrieden leckte sie sich die Lippen. Dann schaute sie sich um. Sah ganz genau hin. Nahm alles auf, was sie sah. Schwieg.

Die Engel rauschten bereits unruhig mit den Flügeln und Josef scharrte mit dem Fuß. Sie alle warteten. Und Gott schaute.

Sie sah den Mann mit dem rotweiß geringelten Schal und dem zerrissenen Mantel, der mit gesenktem Kopf durch die Gassen schlurfte. Sie betrachtete die alte Dame, die mit dem Rollator, auf der mit Hackschnitzeln bestreuten Fläche, kaum vom Fleck kam. Sie blickte dem jungen Vater nach, der mit der einen Hand den Kinderwagen schob und einen kleinen Jungen auf dem anderen Arm trug. Gott beobachtete die fünf jungen Frauen, die eng beieinander standen, den Glühweinbecher fest in der Hand, und lachten, als ob es Morgen verboten würde. Gott sah die dicke Händlerin, die immer wieder in ihre Finger pustete, um sie warm zu bekommen. Sie bemerkte auch die junge Obdachlose, die sich in eine dunkle Nische duckte und die Frau mittleren Alters, die sich unwirsch die Tränen aus dem Gesicht wischte. Und sie entdeckte die beiden Jungen, die sich, Flöte spielenderweise, tapfer bemühten, mit ihren Advents- und Weihnachtsliedern die wenig Adventliche <Konservenmusik> zu übertönen.

„Guckt mal“, sagte sie zu ihren Freunden. „Da gibt es einige, die ein bisschen Unterstützung gebrauchen könnten!“ Noch während Josef und die Engel sich suchend umschauten, begann mit einem Mal der Himmel zu leuchten. Der ganze Himmel. Erst wurde es über dem Weihnachtsmarkt taghell. Dann verwandelte sich das Leuchten zu einem Schweifstern, der genau über den flötenden Jungen stehen blieb.

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Die Menschen blieben stehen. Schauten nach oben. Schüttelten verwundert den Kopf und eilten weiter. Der Mann mit dem Schal, die Frau mit dem Rollator, der Vater mit dem Kinderwagen, die fünf Freundinnen, die dicke Händlerin – sie folgten dem Stern und trafen sich bei den beiden Jungen. Auch die Obdachlose und die weinende Frau kamen langsam dazu. Sie alle hörten den Flöten zu. Plötzlich, die Jungen spielten gerade <Macht hoch die Tür…> begannen die Menschen zu singen. Zaghaft erst, dann kräftiger und erstaunlich Textsicher. Dann fiel die Obdachlose in den Gesang ein. Ihre Stimme schwang sich hinauf bis zum Stern an der Spitze des Tannenbaumes. Voller Inbrunst sang die Frau, kräftig, klar, hell, glockenrein. Immer mehr Menschen strömten über den Markt; wollten sehen, wer dort sang und der Stimme lauschen. Und als die beiden Jungen <Morgen Kinder, wird’s was geben…> anstimmten, sangen alle Menschen gemeinsam.

Dicht gedrängt standen sie nebeneinander – fremd neben Fremden und doch miteinander verbunden. Noch lange nachdem der Beifall abgeebbt war, blieben die Menschen stehen. Sie unterhielten sich. Die weinende Frau nahm den kleinen Jungen von seines Vaters Arm und brachte ihn zum Lachen. Die Hände der dicken Händlerin wurden warm, die Frau mit dem Rollator durfte sich auf einem Stuhl ausruhen. Die fünf Freundinnen kauften kurzerhand einen Thermobehälter voller Punsch. Sie brachten zwei Körbe mit Tassen und begannen, den Punsch auszuschenken. Der Mann mit dem rotweiß geringelten Schal hatte längst den Kopf hoch erhoben und kam gerade – mit Unmengen durchsichtiger Plätzchen-Tüten beladen – zurück. Die Menschen aßen und tranken, sie unterhielten sich und immer wieder stimmte die junge Obdachlose ein Lied an und alle sangen mit. Niemand war allein. Allen war warm, sowohl außen als ums Herz herum. Die alte Frau fand jemanden, der sie auf dem Heimweg begleitete. Die weinende Frau und der Mann mit dem Schal näherten sich einander vorsichtig an. Die junge Obdachlose bekam von einem Mann eine Visitenkarte überreicht, mit der Bitte, sich unbedingt in den nächsten Tagen bei ihm zu melden.

Und Gott sah, dass es gut war.

Dezember 2017

 

Wenn Du Gott am Glühweinstand treffen würdest...


Foto: Erwin Grundler, Überlingen-Aufkirch
2 Kommentare
  1. annette
    annette sagte:

    liebe judith, das ist meine weihnachtsgeschichte für dieses jahr. ich verschenke gerne eine schöne geschichte zu präsenten dazu…..und die ist so passend. …..eine dolle umarmung dafür
    herzlichst
    annette

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  2. mutigerleben
    mutigerleben sagte:

    Liebe Annette,
    danke für die Umarmung, die tut mir sehr gut heute Morgen.
    Ich freue mich, dass dir die Geschichte gefällt und darüber, dass du sie weiter verschenken willst. Setzt du bitte zu meinem Namen das Copyright-Zeichen und als Datum ?
    Ich hoffe, dir geht es gut und du findest trotz der Festvorbereitungen ein wenig Zeit für Ruhe und das, was dir wichtig ist.
    Einen guten Wochenbeginn und alles Liebe, Annette,
    herzlich
    Judith

    Antworten

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