Als ich einmal Gott traf

Als ich einmal Gott traf, war ich unterwegs am Ufer des Bodensees zwischen Überlingen und Uhldingen. Es war ein kalter Herbsttag. Nebelschwaden bedeckten den See fast vollständig. Der Wind stieß feuchte Blätter vor sich her, riss sie nach oben und ließ sie wieder fallen. Ich war allein. Niemand begegnete mir. Falls es Geräusche gab, schluckte der Nebel sie. Ich konnte auch kaum etwas sehen – ich spürte nur die Feuchtigkeit, die sich unter meine dunkelblaue Laufhose, meine hellblaue Jacke und in die Schuhe drängte.
Plötzlich konnte ich, einige Meter vor mir, im Nebel etwas sehen. Dunkle Umrisse. Nichts Genaues zu erkennen. Weder riesig groß noch ausgesprochen klein. Unbeweglich. Ich blieb stehen, ging dann langsam und vorsichtig weiter, den Umriss fest im Blick. Als ich näher kam, entdeckte ich, dass es sich um einen Mensch handelte. Eine Frau – um genau zu sein. Zwei Schritte von ihr entfernt hielt ich inne. „Guten Tag“, sagte ich leise, um sie nicht zu erschrecken. Sie drehte sich nicht um, bewegte sich nicht, zeigte keine Regung. Trotzdem war ich zutiefst davon überzeugt, dass sie mich wahrgenommen hatte. Ich ging noch einen Schritt näher. Konnte ihr Profil sehen. Sie war sehr blass. Kurze, kupferrote Haare standen in alle Richtungen von ihrem Kopf ab, so, als ob sie intensiv die Haare gerauft hätte. Sie trug nur eine Bluse, eine lange Hose und Sandalen. Irgendwie sah sie merkwürdig unberührt aus von all dem um sie herum. Ich blieb stehen, wusste nicht, was ich tun sollte.

Da klopfte sie mit der rechten Hand neben sich auf den Boden. Lud mich so ein, mich zu ihr zu setzen. Ohne lange zu überlegen, kam ich der Aufforderung nach. Langsam drehte sie mir ihr Gesicht zu. Die braunen Augen leuchteten, auch wenn unübersehbar war, dass sie geweint hatte. Eine Weile schauten wir uns nur an.„Willst du reden?“, fragte ich sie irgendwann.

„Würdest du zuhören?“, fragte sie zurück. Ich war irritiert. „Sicher“, antwortete ich.

„Wenn ich wählen dürfte, wäre mir schweigen lieber. Kannst du mit mir schweigen?“
„Ja“, erwiderte ich schlicht.

So saßen wir da. Nebeneinander. Schauten in den Nebel. Schwiegen. Gemeinsam. Spürten feinen Sprühregen auf der Haut. Und obwohl es nicht die passende Zeit war, um draußen zu sitzen, war es in Ordnung. Das Schweigen, das Aushalten und zulassen des Nichtwissens und Passivseins, verband uns tiefer, als es ein langes Gespräch vermocht hätte. Nach einiger Zeit – es kam mir vor wie ein ganzer Tag – atmete sie tief durch. Drehte den Kopf. Schaute mich an. „Danke“, sagte sie, „das hat gut getan. Manchmal habe ich Zeiten, in denen ich daran zweifle, dass es eine gute Idee von mir war, Menschen zu erschaffen.“ Sie machte eine Pause. Eine lange Pause. Ich wartete. Geduldig. Ruhig. Gelassen. War nur da. War in Gedanken ganz bei ihr und ganz bei mir. Völlig unvermittelt stand sie auf. „Jetzt sind meine Zweifel wieder weg, danke!“

 

DSC_0511

Sie bat mich, die Augen zu schließen und die rechte Hand zu öffnen. Ein sanfter Hauch, wie das Streifen eines Seidentuchs, berührte meine Hand.
Als ich die Augen wieder öffnete, war sie weg. In meiner Hand hielt ich einen Stein. Er war klein. Nicht größer als mein Daumennagel und aus hellem Beige, mit einem orangebraunen Fleck. Ich schaute ihn an, dreht ihn um – und entdeckte auf der anderen Seite ein kleines Herz. Orangebraun. Zum Stein gehörend. In unzähligen Jahren geworden. Ich brauchte keine Erklärung. Ging zurück. Leichtfüßig. Ruhig. Den Stein fest in meiner Hand.
Ich besitze ihn noch immer.

 

Foto: Erwin Grundler, Überlingen – Aufkirch

0 Kommentare

Hinterlasse einen Kommentar

An der Diskussion beteiligen?
Hinterlasse uns deinen Kommentar!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert