Das Blütenkind

Heute bin ich auf dem Heimweg an blühendem Mohn vorbei gefahren – dem ersten dieses Jahres. Er hat mich an eine meiner allerersten Geschichten erinnert (geschrieben 2012), die ich je geschrieben habe. Zusammen mit wunderschönen Klatschmohn-Fotos von Erwin, entstand daraus ein kleines Fotoheft. Heute will ich die Geschichte hier mit Euch teilen.

 

DSC_5853Auf einer Wiese, im Schatten eines in die Jahre gekommenen Baumes, blüht der Mohn. Klatschmohn, rot leuchtend wie Feuer, weithin sichtbar, grazil in der Nähe.
Ein kleines Blütenkind wächst dem Blühen entgegen. Friedlich schlummert es in seiner Knospe. Der Wind wiegt es behutsam auf und ab, hin und her. Es fühlt sich wohl in seiner grünen Wiege. Aufgehoben und geborgen in einer grünen, festen Hülle. Ab und an wacht das Blütenkind auf, hört Klänge, spürt Dinge – unerklärlich und fremd. Manchmal verändert sich die grüne Wiege. Es war, als ob sie größer würde. Dann dehnt und reckt sich das Blütenkind. Kuschelt sich ein und lässt sich vom Wind zurück ins Traumland tragen. Ein Tag nach dem anderen zieht vorüber wie Wolken am Himmel, während es in seiner Hülle schlummert und sich entwickelt.

Eines Morgens, die nächtlichen Tautropfen auf den Gräsern sind schon in der Frühlingswärme getrocknet, erwacht das Blütenkind. Etwas ist anders. Eigenartig fühlt die Hülle sich an. Weicher ist sie, an Festigkeit fehlt es ihr. Das Blütenkind wird ganz unruhig. Nicht einmal das Schaukeln im Wind kann es beruhigen.  Die Verwirrung nimmt zu, breitet sich aus, lässt die Knospe erzittern. „Was ist nur mit mir los?“ fragt sich das Blütenkind. Da fällt von draußen ein Sonnenstrahl auf die Knospe, die das Blütenkind birgt. Zärtlich streichelt er die Schutzhaut und hüllt das Kleine in seine Wärme ein. Unter dem sanften Streicheln legt sich langsam die Verwirrung. Das Blütenkind wird ruhig. „Hab keine Angst“, raunt der warme Strahl. „Deine Zeit ist gekommen, du wirst aufbrechen, um zu blühen!“

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Das Blütenkind lauscht konzentriert. Wie soll das gehen? Es hat keine Ahnung. Alles ist neu und fremd. Gerade will es den Sonnenstrahl befragen, da hat dieser sich bereits zurückgezogen. Das Blütenkind wartet. Und wartet. Nichts! Alles ruhig. In dem Moment, als es wieder einschlummern will, gibt es einen kräftigen Ruck. Das Blütenkind erschrickt. Es schaut sich um und entdeckt einen großen Riss, der sich längs über die gesamte Hülle zieht. Die Geräusche von draußen werden lauter. Durch den Spalt kann es Farben sehen und den Wind, der es so oft gewiegt hat, spüren. Es schaut, lauscht, fühlt und riecht das Draußen. Voller neuer Eindrücke schläft das Blütenkind wieder ein.
Früh am Morgen kitzelt der freundliche Sonnenstrahl vom Vortag das Blütenkind an der Nase. „Aufstehen, du kleine Schlafmütze“, sagt er liebevoll. „Jetzt ist es Zeit, ganz aus deinem Bettchen zu kommen.“ „Oh je“, sagte das Blütenkind. „Der Riss hier ist so schmal, da gelange ich niemals hindurch. Ich bleibe lieber hier und schaue, wie es draußen ist. Das genügt mir.“ Der Sonnenstrahl schweigt. Lang. Ganz still ist es.
„Meine Kleine“, sagt er dann, „diese Entscheidung liegt nicht bei dir. Das Aufbrechen ist nicht mehr aufzuhalten. Es wird wehtun, aber das geht vorbei. Lass es zu und wehr dich nicht dagegen.“ Das Blütenkind bleibt stumm. Ängstlich fragt es den Sonnenstrahl: „Bleibst du bitte hier bei mir?“ „Sicher“, nickt dieser und sagt: „Jetzt!“
DSC_1095Das Blütenkind sammelt all seine Kraft, sprengt die Knospe und schiebt sich Stück um Stück aus der schützenden Hülle. Als es zur Hälfte hinausgewachsen ist, hält es zitternd inne. Der Wind, den es so gut kennt, wiegt es in seinen Armen und hält es tröstend, bis der ärgste Schmerz vorüber ist. „Du hast es fast geschafft“, ermutigt er das Blütenkind. „Nur ein kleines Stück fehlt noch. Mach weiter.“ Das Blütenkind tut wie geheißen. Es presst, schiebt, lässt die bergende Knospe zurück. Als der Schmerz abgeebbt ist, beginnt es langsam, sich zu entfalten. Eine zauberhafte Blüte entsteht. „Willkommen“ rauscht und raunt es rund um das Blütenkind. „Wie schön, dass es dich gibt.“  
Vor lauter Freude wird das Blütenkind ganz rot. Es leuchtet und zeigt seine durchscheinenden Blätter. Mit seiner Offenheit zieht es andere an, lädt sie zu sich ein. Bienen und kleine Käfer kommen zu Besuch, dürfen sich ausruhen und sattessen. Das Blütenkind genießt das Singen der Vögel, das Raunen des Windes, das Wispern der Sonne. Es lernt die Geräusche der Menschen kennen und freut sich, wenn sie stehen bleiben, um es zu betrachten. Mit den Gräsern in der Nähe versteht es sich. Immer wieder neigt sich eines zu ihm. Sie tanzen miteinander im Wind, tuscheln und kichern, genießen die Tage. Auch die anderen Mohnblüten, die rechts und links neben ihm wachsen, sind zu Freunden geworden. Besonders eine alte Blüte zieht das Blütenkind an. Immer wieder führen die beiden lange Gespräche. Sie erzählt von ihren Erlebnissen und fragt nach seinen. So vergeht die Zeit. Noch immer sind da der Sonnenstrahl, der das Blütenkind wärmt und der Wind, der es in den Schlaf wiegt. Es gibt Regen, der sacht die Blütenblätter netzt und das Blütenkind erfrischt.
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Eines Morgens wacht das Blütenkind zitternd auf. Kalt ist es. Dunkel. Gefährlich. Der Wind pfeift und heult. Schwarze Wolken ballen sich am Himmel zusammen. Bedrohliches grüngelb stiehlt sich ins schwarze Dunkel. Vor lauter Furcht wagt es nicht, seine Blüte zu öffnen. Die Käfer verkriechen sich, Bienen fliegen nicht mehr, Menschen eilen unter schützendes Dach. Blumen und Gräser schließen ihre Blüten. Alles, alles sucht Deckung. In der Ferne hört das Blütenkind lautes Grollen, das näher rollt. Lichtblitze zerreißen den Himmel; verschwinden, um wiederzukommen. Donner krachen in den Tag, lassen erbeben, verstummen. Dann kommt der Regen. Dicke, schwere Tropfen fallen vom Himmel – immer größere, immer mehr. Scharf wie Messer bohren sie sich in alles, was sie treffen. Sie rasen auch in das Blütenkind, das vor Schreck und Schmerz aufschreit. Zwei seiner Blütenblätter sind bereits eingerissen und das Regengetrommel hat kein Ende. Panisch sucht es die alte Blüte, aber es findet sie nicht. Nur eine grüne Kapsel ist da, wo sie geblüht hat, zu sehen. Blütenblätter, abgerissen und vom Wind zerfetzt, liegen auf dem Boden. „Wo bist du?“ weint das Blütenkind. „Lass mich nicht allein!“ Da beugt sich die Kapsel hinüber und streichelt das Blütenkind. „Hab keine Angst. Ich bin noch hier. Ich sehe nur anders aus. Weißt du“, sagt sie, „wir alle haben eine bestimmte Zeit. Wenn wir die gelebt haben, gehen wir. Aber wir gehen nie ganz. Schau, in dieser Kapsel sind unzählige, kleine Mohnkörner – Samen, die ich dem Wind und der Erde anvertraue. Im nächsten Jahr entstehen daraus neue Blumen und eine ebenso schöne Mohnwiese wie diese hier.“
Nach einer langen Weile fragt das Blütenkind leise: „Und wie geht es mit mir und den anderen weiter?“ Sie antwortet: „Du, kleines Blütenkind, blühst noch ein Weilchen. Auch wenn du vom Regen und Sturm zerzaust bist, bist du zauberhaft. Lass dich von deinem Freund, dem Wind, in den Schlaf wiegen und erhole dich. Und morgen sind Käfer und Bienen, Gräser und Blumen wieder da und du kannst mit ihnen lachen und tanzen. Und eines Tages wirst du dich ebenso verwandeln wie ich.“ Die Kapsel lächelt das kleine Blütenkind an. Beide verstummen. Wohltuendes Schweigen breitet sich um das kleine Blütenkind aus.

 

Fotos: Erwin Grundler, Überlingen - Aufkirch

 

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