Das ist Frau Piepenkrog

Frau Piepenkrog ist so breit wie lang – kurz: ein laufender Meter, sehr rund und sehr weich. Ihre Augen strahlen aus einem dichten Netz von Lachfalten und der breite Mund ist äußerst lachwillig.

Wie Frau Piepenkrog ihren Tag beginnt, hängt ganz vom Wetter ab. Wenn sie morgens aufwacht, greift sie aus dem Bett heraus nach dem Vorhangzipfel. Sie lüpft ihn und riskiert einen Blick nach draußen. Ist es blau und zeigt sich die Sonne, springt Frau Piepenkrog aus dem Bett, reißt mit einem Ruck den Vorhang auf und blickt hinaus in den grauen Hinterhof mit der bunten Bank unter der krummen Birke. Regnet es, lässt sie den Vorhang wieder fallen, zieht die pinkfarbene Schlafmaske über die Augen und dreht dem Tag den Rücken zu. Wacht sie später wieder auf, legt sie die Maske ab, öffnet langsam die Augen und schaut sich um. Als Erstes fällt ihr Blick auf ein großes Bild. Auf einem dunkelblau gefleckten Hintergrund blüht eine Pfingstrose. Rosa ist sie, grell Rosa. Die Blütenblätter sind gefiedert und es ist der Malerin gelungen, sie so zu malen, als würden sie sich sacht bewegen. Wenn sie das Bild lange genug betrachtet hat, steht Frau Piepenkrog auf und huscht ins Bad. Unter der Dusche singt sie – am liebsten alte Schlager oder große Opernarien.

Sie hat ihren ganz eigenen Rhythmus. Frühstücken, mit wenigen Handgriffen die Küche aufräumen, schnell die Wohnung durchwischen – das gehört dazu. Dann geht sie spazieren. Jeden Tag. Sommers wie winters trägt sie ein weites, abgenutztes, dunkelgrünes Lodencape. „Darunter können meine Pfunde sich so schön ausbreiten“, erzählt sie gern. Fast immer trägt sie Leggins und darüber einen weiten, schwingenden Rock. Röcke hat sie viele – in allen Farben der blauen Farbpalette. Dazu trägt sie jeden Tag eine frische Bluse; ganz schlicht und immer mit Kragen und Manschetten. Nie käme sie auf die Idee, ein T-Shirt oder einen Pullover anzuziehen oder womöglich eine Jogginghose. „So etwas tragen nur Banausen“, pflegt sie zu sagen. Vervollständigt wird ihre Garderobe von einem Hut – sie besitzt eine ganze Reihe extravaganter Hüte, manche so groß wie ein Wagenrad, manche nicht größer als eine Männerhand – von pinkfarbenen Stöckelschuhen mit schwarzen, glitzernden Steinen auf der Schnalle und einer voluminösen pinkfarbenen Handtasche.

Während sie spazieren geht, lässt sie ihre Blicke schweifen. Sie sieht alles. Nichts, aber auch gar nichts, entgeht ihrem wachsamen Blick. Frau Piepenkrog spricht mit Mensch und Tier; mit Bäumen und Sträuchern, Gräsern, Blumen, Steinen.

Kurz gesagt: Frau Piepenkrog wirkt ein bisschen seltsam. Sie weiß, dass manche Leute hinter ihrem Rücken über sie den Kopf schütteln. Sie bemerkt, dass manche mit dem Finger auf sie zeigen. Sie hört ganz genau, wie oft über sie getuschelt wird. Aber Frau Piepenkrog ficht das nicht an. „Ich bin, wie ich bin!“, sagt sie dann zu sich selbst und schaut sich dabei liebevoll an.

Frau Piepenkrog geht bei jedem Wetter nach draußen. „Schließlich trage ich viel Verantwortung, alle und alles wartet darauf, von mir gesehen und begrüßt zu werden“. Für „Schlechtwettertage“ besitzt Frau Piepenkrog Gummistiefel – rosafarbig und mit bunten Glitzersteinen beklebt. Über den Hut stülpt sie wahlweise einen gelben Müllsack oder einen durchsichtigen Mülleimer-Beutel. So kann sie getrost von Pfütze zu Pfütze springen und das Wasser in alle Richtungen spritzen zu lassen. Dann lacht sie so herzlich und laut, dass sie andere damit ansteckt.

Wenn Frau Piepenkrog unterwegs ist, kommt es vor, dass sie Tagträumt. Sie träumt von einer Welt, in der die Menschen friedlich miteinander leben. Von einer bunten Welt. Von einer lauten Welt. Von einer Welt, die vor Kinderlachen bebt. Von einer Welt, in der niemand übersehen, beschimpft, kleingemacht, gemobbt, ausgelacht, verletzt oder gar getötet wird. Von einer Welt, in der das Miteinander von Mensch und Tieren und Pflanzen selbstverständlich ist. Von einer Welt, in der Kinder sehnsüchtig erwartet werden und ihr lautes Spiel niemanden stört. Sie malt sich diese Welt aus. Großzügig. In allen Einzelheiten. Und wenn sie darin keinen Platz mehr findet, wird sie aktiv. Im Schutz der Dunkelheit bemalt sie graue Betonmauern mit bunten Ornamenten. Sie wirft „Samenbomben“ in Parks, Gärten, Rabatten, Verkehrsinseln und auf Balkone. Hängt Papiervögel – kleine und große, einfarbige und bunte – in kahle oder grüne Bäume und spielt den Vögeln mit ihrer Flöte zum Tanz auf.

Auf diese Weise ist Frau Piepenkrog stundenlang unterwegs. Sie macht Pausen, wenn sie sie braucht. Trinkt aus den Brunnen der Stadt. Pflückt Beeren und Kräuter. Ab und an kauft sie sich etwas ganz Besonderes. Oft hat sie eine Käsestulle dabei. Manchmal ein wenig Obst. Sie ist mit wenig zufrieden – Hauptsache sie wird satt. Hin und wieder kommt es vor, dass sie aus Mitleid von Passanten ein trockenes Brötchen oder eine Apfeltasche geschenkt bekommt. Das Essen behält sie gern, das Mitleid weist sie entschieden zurück. Und niemand käme je auf die Idee, dass Frau Piepenkrog keineswegs arm ist.

Wenn sie nach Hause kommt, liest sie oder schreibt. Sie singt oder tanzt und ab und an telefoniert sie mit Bekannten. Dann macht sie sich fürs Bett fertig. Die Kleider hängt sie glatt auf gepolsterte Bügel. Die feinen Schuhe befreit sie vom Staub des Tages. Dann steckt sie Schuhspanner hinein. Die Tasche, voll mit Funden des Tages und all dem, was sie tagsüber braucht, stellt sie auf den Küchentisch. Jeden Abend freut sie sich darauf, ins Bett zu gehen. Auf das große Kissen, in dem sie versinkt. Auf die weiche Decke, in die sie sich einwickeln kann. Auf das Träumeland, das auf sie wartet.

Liegt sie bequem, beginnt sie mit Gott zu sprechen. „Du, Gott, sag mal, bist Du heute Abend auch da“? fragt sie. Sie wartet. Liegt still. Hält den Atem an. Hält ihn an, bis sie eine Antwort bekommt: „Das weißt Du doch, meine Liebe“, antwortet sie.

Und dann fängt Frau Piepenkrog an zu reden: „Du Gott, weißt Du, dass ich mich bei Dir wohlfühle? Aufgehoben, wie ein Baby bei seiner Mutter im Bauch. Heute war es schön. Bitte, lass mich auch Morgen wieder Wunder entdecken. Kleine, wie Knospen im Frühjahr – kurz bevor sie aufspringen. Gern auch einmal ein Großes. Vielleicht bringst Du ja den bärbeißigen Alten von nebenan dazu, meinen Gruß zu erwidern.“ Dann greift Frau Piepenkrog nach ihrer Schlafmaske, dreht sich um und murmelt: „Danke, Gott, gute Nacht, schlaf gut und pass auf, dass Du im Halbschlaf nicht von Deiner Wolke purzelst.“ Sie kichert und schläft ein.

Ja, so ist Frau Piepenkrog. Ein kleines bisschen verrückt und schrullig, neugierig, liebenswert und herzensgut, freundlich und weise. Ganz weise.

© Judith Manok-Grundler, März 2017

 

16 Kommentare
  1. Julie
    Julie sagte:

    Was für eine schöne Geschichte, liebe Judith! Ich mag Frau Piepenkrog, sie war mir schon beim Vorhang aufziehen sehr sympathisch! Schön wie du ihren Tag beschreibst, ja schrullig und wunderlich kommt sie rüber, aber eben auch total lieb und liebenswert!
    Begeisterte Grüße, Julie

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  2. Helga F.
    Helga F. sagte:

    Habe Frau Piepenkrog gerade erst entdeckt, was für eine tolle Frau. Mit ähnlichen Körpermaßen und Massen ausgestattet fühlte ich gleich unsere Seelenverwandtschaft durch das Glas vom Bildschirm.
    Danke fürs bekannt machen liebe Judith.
    Helga

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  3. Helga
    Helga sagte:

    Das würde mich freuen liebe Judith.Hab gestern dauergelesen auf deinem Blog und diese kleine Lady ist einfach genial.Eigentlich verliebe ich mich ja so spontan meist nur in Tiere, aber Frau Piepenkrog und ihre Erlebnisse sind herzerwärmend. Danke.

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  1. […] sie aus der Versenkung zu holen. Es ist allerdings wichtig, Frau Piepenkrog kennenzulernen. Hier https://mutigerleben.wordpress.com/2017/04/14/das-ist-frau-piepenkrog/ kannst Du das […]

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