Das Wort zum Sonntag: Im Atemhaus (1)

Im Atemhaus

Unsichtbare Brücken spannen
von dir zu Menschen und Dingen
von der Luft zu deinem Atem

Mit Blumen sprechen
wie mit Menschen
die du liebst

Im Atemhaus wohnen
eine Menschblumenzeit.

Rose Ausländer

 

Wieder ist Sonntag. Ein verregneter Sonntag noch dazu. Es war angekündigt und so werden viele Menschen heute zu Hause sein. Zu Hause in ihren Wohnungen oder Häusern. Dort zu Hause, wo es für viele Menschen in den letzten Monaten eng geworden ist. Eng und vielleicht auch beängstigend.
Wieder ist Sonntag. Ein Tag, der eine Unterbrechung markiert (oder zumindest markieren sollte). Ein Tag, der für viele Freiheit mit sich bringt – machen können, was man will! Hinausgehen, fortgehen, etwas anderes sehen. Für manche artet der Sonntag inzwischen in Freizeitstress aus. Für andere soll es eine stillere Zeit sein – eine zum Nachdenken. Eine für eine Pause. Eine, um Gottesdienste zu besuchen (wobei das für viele momentan nicht einfach ist).
Wieder ist Sonntag. Für mich ein Tag, der eine Unterbrechung mit sich bringt. Eine Unterbrechung des Alltages. Eine Unterbrechung des <Gleich>. Und ganz sicher ein Tag, den ich gern mit Literatur verbringe. Mit Schreiben auch und mit Schauen und mit Staunen. Und mit Fragen. Mit Suchen. Mit finden.

Eine dieser Fragen lautet „Wo wohne ich?“
Klar, ich kann diesen Ort beschreiben und mit einer Adresse belegen. Und ja, es ist ein Ort, den alle Menschen als einen Ort bezeichnen würden.

Dennoch: Ist das der einzige Ort, an dem ich wohne? Wohne ich nicht auch in der Begegnung mit anderen Menschen? Wohne ich nicht auch im Vertrauen? Wohne ich nicht auch in Gott, wenn ich lese: <Siehe, ich habe dich eingezeichnet in meine Hand>? Wohne ich nicht auch in Erinnerungen? Wohne ich nicht auch in der Freude und manchmal in der Stille?

Rose Ausländer spricht davon, „Im Atemhaus“ zu wohnen. Was sie zu diesem Wort veranlasste, weiß ich nicht. Mir aber wird beim Lesen wieder bewusst, dass ich auch in meinem Atem lebe. Mehr noch: Ohne Atem gibt es kein Leben. Im Atemhaus wohnen – eine Menschenblumenzeit.
Ja, der Atem schenkt Leben. Er lässt es blühen. Er schenkt Kraft. Mit ihm ist mir möglich, was ich gestalte. Beziehungen, Freundschaften und Verbindungen. Mein Handeln und denken und fühlen. Mein Hiersein. Mein ICH sein. Mein <für andere sein>.

Ja, der Atem schenkt Leben. Deshalb wohne ich „Im Atemhaus – eine Menschenblumenzeit“.

 

|WERBUNG WEGEN NAMENSNENNUNG, UNBEZAHLT|

 

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Einen wunderbaren Sonntag wünsche ich!

Foto: © Judith Manok-Grundler, Überlingen

 

[1] Aus: https://www.lyrikline.org/de/gedichte/im-atemhaus-554, 14.06.2020, 12.40 Uhr

3 Kommentare
  1. Annuschka
    Annuschka sagte:

    Sehr interessant. Mir kommt die Assoziation zu „Ruach“ beim Atemhaus. Nicht nur Atem, sondern auch Geist, geistvolle Energie. Die Aussprache des Wortes erinnert ja sogar an das hauchende Geräusch beim Atmen. Und weißt du was? Wir leben viel zu selten mit und in diesem Bewusstsein. Ein Mangel in unserer Zeit?
    Einen schönen Sonntagabend noch und liebe Grüße, Anja

    Antworten
    • mutigerleben
      mutigerleben sagte:

      Liebe Anja,
      das finde ich spannend – denn genau das war auch meine Idee. Ich habe mir überlegt, ob ich noch einmal auf „Ruach“ und die Pfingstzeit hinweisen soll – und mich dagegen entschieden. Wie schön, wenn es bei Dir dennoch ankam.
      Hab eine gute woche,
      Judith

      Antworten

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