Dornröschen Fortsetzung 1

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Im Rahmen des #Writing Friday von https://readbooksandfallinlove.com/category/meine-wochenaktionen/writing-friday/ habe ich am 20. September einen ersten Text zu Dornröschen geschrieben, die nach 100-jährigem Schlaf im Jahr 2019 erwacht. Der entstandene Text „schrie“ förmlich nach einer Fortsetzung. Heute und Morgen kannst Du lesen, wie es mit Dornröschen weitergeht.

 

Nachdenklich kehrt Dornröschen später am Tag in das Schloss zurück. Sie ist gleichzeitig niedergeschlagen und angerührt. „Ich bin nicht allein!“ Der Gedanke taucht auf wie die Sonne am frühen Morgen hinterm Horizont. „So lange die Fee über mich wacht, ist alles gut!“
Im Schloss rennt sie die breite Treppe hinauf bis in den Ballsaal. Sie sieht sich um. Die Prismen des Kronleuchters werfen warmes Licht auf den Boden und übergießen Dornröschen mit Geborgenheit. Wie jeden Tag bislang, ist auch heute der Tisch gedeckt. Fünf Kerzenflammen flackern. Köstlicher Duft liegt in der Luft und die Sträuße aus Margeriten und Salbei verbreiten Kindheitszauber.

Dornröschen geht zum Fenster. Sie schaut hinaus. <Du musst deinen eigenen Weg gehen, das ist nie ganz leicht. Es geht darum, das Leben ein klein wenig besser zu machen. Mit deiner Freundlichkeit kannst du das>. Die Sätze der Fee drehen sich in ihrem Kopf wie ein Karussell. „Aber, wie soll ich denn meinen eigenen Weg gehen, wenn ich ihn nicht kenne?“ Dornröschen fragt es laut.  Die Wörter hallen in dem riesigen Saal. Ihr Echo fällt ihr von der hohen Decke des Ballsaals zu Füßen.
Da hört sie wieder das Flüstern. Dieses leise Flüstern. Körperlos. Imposant. Seltsam tröstlich. „Du wirst ihn entdecken. Glaub mir. Mit der Zeit wirst du das Deine finden. Für den Anfang genügt es, loszugehen. Nimm mit, was du gut kannst – und das, was schwer für dich ist. Geh. Sei offen. Sei du selbst. Höre auf dein Herz und deinen Kopf. Lass dich überraschen. Überrasche andere. Denke daran, das ist das Allerwichtigste: Überhebe dich nicht über die Anderen. Auch, wenn du Dinge vielleicht klarer siehst oder du mehr weißt als andere – denke daran, auch sie haben ein Lebensrecht. Jede und jeder da draußen hat Erfahrungen gemacht, die sie oder ihn prägen. Diese Erfahrungen lassen sich nicht miteinander vergleichen oder miteinander teilen. Und eines noch: Du darfst dir Zeit lassen und du darfst Fehler machen. Geh, setz dich an den Tisch und iss und dann schlaf dich aus – du wirst Kraft brauchen“.

Am nächsten Morgen erwacht Dornröschen. Sie zieht die Vorhänge zurück. Schaut in den Tag hinein, schlüpft in ihre Kleider, hüpft die Treppe hinunter. Sie nimmt sich ein Croissant und eine Banane. Trinkt den Becher mit heißer Schokolade aus. Putzt sich mit dem Handrücken die Sahne vom Mund. Dann läuft sie los.
Auf dem Weg in die Stadt trifft sie auf einen Vogel, der sich in einer Hecke verfangen hat. Vorsichtig befreit sie ihn. Sie setzt ihn auf ihre Hand. Pustet ihm vorsichtig ins Gefieder. Flüstert „Flieg Kleiner“ und schaut ihm zu, wie er sich höher und höher in die Luft schraubt.
Sie trägt einer jungen Frau die schwere Einkaufstasche den Berg hinauf bis zur Haustüre, damit die Frau den Zwillingswagen leichter schieben kann.
Bald kommt Dornröschen an einem Spielplatz vorbei. Ein Junge sitzt auf der Schaukel. Er ist allein. Tränen laufen ihm über das Gesicht. „Was ist los?“, fragt sie, während sie vor ihm in die Hocke geht. „Mama hat gesagt, ich soll rausgehen, sie bräuchte Ruhe. Und jetzt bin ich hier ganz allein“.
Dornröschen schaut ihn an. „Soll ich mit dir spielen?“ Der Junge strahlt. „Echt. Würdest du?“ Sie nickt und schon geht es los. Die beiden rutschen und schaukeln. Sie backen Sandkuchen und verzieren sie mit Blumen, Blättern und kleinen Kieselsteinen. Sie drehen sich im Karussell bis ihnen schwindelig wird. Legen sich auf die Wiese und betrachten Wolkenbilder. Spielen gemeinsam: <Ich sehe was, das du nicht siehst>. Viel später geht der Junge nach Hause. „Danke, das war toll. Kommst du wieder her?“
„Vielleicht“, sagt Dornröschen und winkt ihm nach, bis die Haustüre hinter ihm ins Schloss fällt. Langsam geht sie zum Schloss zurück.

 

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Foto: Erwin Grundler, Überlingen-Aufkirch
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