Ein Brief an Annette von Droste-Hülshoff

Das Abschlusswochenende der Schreibausbildung führte uns im September 2013 nach Meersburg. Dort haben wir uns mit Texten von ihr auseinandergesetzt und Plätze besucht, die mit ihr verbunden sind. Bei der Besichtigung der Burg haben wir uns mit ihrem Gedicht „Am Turme“ beschäftigt und dann einen Brief an sie geschrieben.

 

Liebe Annette,

gerade habe ich wieder dein Gedicht „Am Turme“ gelesen. Viele Male inzwischen. Jedes Mal berührt es mich wieder. Mir ist, als ob ich die Sehnsucht darin mit Händen greifen könnte. Sehnsucht, anders sein zu dürfen. Sehnsucht, nicht im Rahmen der engen, biederen Konventionen gefangen zu sein, wie es für eine Frau damals kaum anders möglich war.

Ich sehe dich sitzen, das lange Haar flattert im Wind um deinen Kopf, deine Schultern und Arme, deinen Körper. Kein sanftes Umhüllen, vielmehr ein wildes flattern, äußere Entsprechung des inneren Fühlens. Wie hätte ich mir für dich ein Aufspringen gewünscht. Ein Aufspringen, ein dich stellen: dem Wind, den Mächten, den Männern und Frauen, die meinten zu wissen, was für „frau“ gut ist. Ein Aufspringen hätte ich dir gewünscht, damit du dem Wind entgegen brüllst, standhalten kannst, dich durchrütteln lässt, um lebendig zu sein. Leicht und schwer und klar und stürmisch das Leben umschlingen kannst.

Stattdessen sehe ich dich artig und brav wie ein Kind sehnsüchtig sitzen. Voller Trauer. So viele verpasste Möglichkeiten. So viele Einschränkungen. So viel wollen und nicht können. So viel Leid. Und doch: du hast dir ein Refugium geschaffen. Du bist, wenigstens schrittweise, deinen Weg gegangen. Bist deinem Herzensklang gefolgt. Hast dich abgesetzt – Tagreisen zwischen dich und deine Familie gelegt. Dafür, liebe Annette, bewundere ich dich.

Auch heute noch haben viele Frauen nicht deinen Mut noch deine Kraft. Immer noch – trotz vieler Freiheiten – müssen Frauen wählen, sich für eines oder anderes entscheiden. Auch heute entsprechen Frauen alten Rollen, alten Bildern. Geben Wünsche und Träume auf. Verlieren sich. Sitzen fein und klar wie ein artiges Kind – so wie du. Schauen dem Leben zu. Voller Sehnsucht. Lösen nur heimlich den Zopf. Schreien den Schmerz hinaus in den Wind. Dem Sturm entgegen. Wollen bleiben, wenigstens bleiben.

Sag, Annette, woher hattest du deinen Mut? Was kannst du uns heutigen raten? Was würdest du uns sagen, wenn wir dir bei unserem Besuch in Meersburg begegnen würden? Ich wünschte mir, wir würden ins Gespräch kommen miteinander – du, die vorgegangene, ich, die heutige. Ich stelle mir vor, du wärst neugierig wie es sich heute lebt als Frau. Manches wäre dir vielleicht unverständlich, fremd. Über anderes würdest du dich freuen. Wieder anderes würde dir möglicherweise ein ganz und gar undamenhaftes Schnauben entlocken. Aber wie auch immer: du inspirierst mich, findest dich ein in einen großen Kreis von Vorschwestern, die mir zum Vorbild wurden. Die Spuren hinterlassen haben. Spuren, die Sehnsucht atmen und Lebendigkeit und Leben. Eure Spuren in meinem Leben sind unvergessen.

Sei gegrüßt, Annette, und gewiss – ich komme.

Judith

 

 

|WERBUNG WEGEN NAMENSNENNUNG, UNBEZAHLT|

 

 

 

 

Hast Du Dich schon mit Annette von Droste-Hülshoff beschäftigt?

Foto: © Erwin Grundler, Überlingen

 

 

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