Ein Tag im Paradies

Entgegen ihrer Gewohnheit beschließt Frau Piepenkrog, zu einem Gartenfest zu gehen. Wobei: Fest ist der falsche Ausdruck. Viel eher handelt es sich um einen <Tag der offenen Tür in einem Gartenbaubetrieb>. Letztens hat sie zwei Frauen beim Einkaufen getroffen, die rundweg begeistert von diesen Tagen erzählten.

„Also, Rosalinde“, hat sie nach dem Aufstehen zu sich gesagt, „heute schaust du dir das auch an!“ Frau Piepenkrog mag keine Menschenaufläufe, aber sie hegt die Hoffnung, dass im Garten genügend Platz ist, um sich zu verteilen.

Nach der kurzen Busfahrt und einem Fußmarsch von knapp einer Stunde, kommt Frau Piepenkrog dort an. Sie geht hinein. Tritt ins Grüne. Ins Bunte. Ins Weitläufige. Sie fühlt sich wie in einer anderen Welt. Gefangen genommen vom Zauber der Natur und des Zusammenwirkens von gestalteter und urwüchsiger Natur. Sie bleibt stehen. Schließt die Augen. Atmet tief ein. Atmet Grün ein. Smaragdgrün. Tannengrün. Frisches Birkengrün. Warmes, nährendes Gelbgrün. Lindgrün. Flaschengrün. Alles um sie herum verschwindet. Das Grün fließt in sie und durch sie hindurch. Es füllt sie mit Leben. Eine ganze Weile steht sie so. Das Leben um sie herum schwirrt und summt. Sie merkt nichts davon. Bleibt einfach still stehen.

Plötzlich wird sie angerempelt. Sie kehrt zurück. Schaut sich um. Geht los. Planlos. Sie lässt sich anziehen von dem, was ist. Sie geht hierhin und dorthin. Folgt einem Ruf, den nur sie alleine hört. So landet sie an einem Naturteich. Im blauen Wasser, das in der Sonne glänzt, schwimmt eine gelbe Blüte. „Na, du“, fragt Frau Piepenkrog, „bist du ganz alleine?“ Frau Piepenkrog kniet an den Rand des Teichs. Sie beugt sich über die Blüte. Es sieht aus, als würde sie konzentriert und gebannt lauschen. „Ja“, sagt sie, „so geht es mir manchmal auch. Ich bin gern allein und doch ist es schön, hin und wieder Gesellschaft zu haben.“ Frau Piepenkrog schweigt. Schaut sich um. „Rot würde gut zu dir passen“, sagt sie zu der gelben Blume. Sie steht auf. Während sie zu einem Rosenstrauch läuft, kramt sie in ihrer großen, pinkfarbenen Tasche und holt ein scharfes Blumenmesser hervor. Bevor sie eine rote Rose abschneidet, beugt sie sich vor und murmelt: „Ich will dich zu einer Freundin bringen. Sie ist allein und fühlt sich einsam. Du wärst genau die Richtige für sie, um ihr Gesellschaft zu leisten. Bist du damit einverstanden, dass ich dich zu ihr bringe?“

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Die Rose nickt. Ganz behutsam schneidet Frau Piepenkrog sie ab. Sie bringt sie zum Teich und lässt sie ins Wasser gleiten. „Mach es gut“, raunt sie und schaut zu, wie die Rose ganz langsam auf die gelbe Blüte zutreibt. Zunächst bleibt sie auf Abstand, dann bewegen sie sich aufeinander zu. Ganz nah beieinander bleiben sie dann liegen. Frau Piepenkrog spürt Zufriedenheit.

Sie verabschiedet sich von den beiden und geht weiter. Sie sieht bunte Rabatten. Trifft auf lauschige Sitzplätze. Sieht Bilder und farbige Fahnen, Engelskulpturen und Steinberge. Und immer wieder Grün.

„Wie könnte ich am Leben verzweifeln, wenn es so etwas Schönes gibt?“ Ergriffen betrachtet sie ihre Umgebung. Sie schaut nach außen. Nach innen auch. Fühlt. Riecht. Hört. Sieht. Spürt. Ist froh, dass sie da ist.

Erst als die Tore schließen, verlässt sie den verwunschenen Garten. Das Paradies nimmt sie mit.

 

Foto: Erwin Grundler, Überlingen – Aufkirch

4 Kommentare
  1. Seelenstreusel
    Seelenstreusel sagte:

    Liebe Judith,
    deine Geschichten rund um Frau Piepenkrog sind einfach sooo schön. <3 Seitdem du sie wieder zum Leben erweckt hast und ich erstmals von ihr las, gönne ich mir jeden Tag einen Beitrag von Frau Piepenkrog. Du hast wirklich ein außergewöhnlich gutes Talent dafür, so schöne Geschichten zu schreiben, die vor dem geistigen Auge zum Leben erwachen und das Herz erwärmen. Danke dafür!!! <3
    Liebe Grüße
    Karina

    Antworten
    • mutigerleben
      mutigerleben sagte:

      Liebe Karina,
      vielen herzlichen Dank.
      Das finde ich klasse – ich glaube aber, dann braucht es bald schon Nachschub, oder?
      Es freut mich sehr, dass dir meine Art des Erzählens so gut gefällt und sie bei dir Bilder auslöst und dich nährt.
      Bitte schön, sehr gerne.
      Hab es fein und bleib gesund.
      Herzlich
      Judith

      Antworten

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