#Etüdensommerpausenintermezzo: Eine Begegnung der anderen Art
Mit der Regionalbahn fährt Simone in aller Herrgottsfrühe zum Flughafen. Lange hat sie die Sommerpause herbeigesehnt, jetzt ist es endlich soweit. Sie sehnt sich nach Sonne und Wärme, freier Zeit und Nichtstun. Und nach Abstand, vor allem nach Abstand. Viel zu sehr waren die vergangenen Monate von Arbeit und ‚Schatten auf der Seele‘ überlagert. Der Schmerz, der sich ihrer, seit dem Betrug von Jannik, bemächtigt hat, ließ ihre Tage schwer werden um die Nächte einsam. Acht Monate, siebzehn Tage und 15 Stunden sind vergangen, seit Jannik ihr beim Samstagsfrühstück gesagt hat: „Ich habe mich Hals über Kopf in eine andere verliebt, deshalb ziehe ich jetzt aus“. Dann hat er seinen Koffer genommen und ist gegangen. Kein Wort hat Simone seither von ihm gehört. Wie immer sie probierte ihn zu erreichen – er reagierte auf Nichts.
„Wie wenig wir einander kennen“ – dieser Satz lässt sie seither nicht mehr los. Sie hat ihn auch ihrer besten Freundin geschrieben, als sie ihr von der Trennung erzählte. Eine Antwort hat sie darauf allerdings nicht bekommen. Überhaupt hält Tina sich bedeckt. Zwar beantwortet sie hin und wieder eine Nachricht, aber von selbst meldet sie sich nicht mehr. Das ist merkwürdig. Tina ist sonst doch der Typ, der Nachrichten sofort anschaut und ausnahmslos gleich beantwortet. Egal, denkt Simone. Jetzt geht es erst einmal in den Süden. Alles andere kann warten.
Der Flug läuft glatt, ebenso der Transfer ins Hotel unter das Einchecken. Nach einem Mittagsschlaf, einem ersten Besuch am Strand und einer langen Dusche, zieht Simone sich an und geht ins Restaurant zum Abendessen. Ein Kellner bringt sie zu ihrem Tisch. Auf dem weißen Tischtuch stehen blaues Geschirr und Kristallgläser, die in der Abendsonne schimmern. Die Kerzenflamme flackert und malt Bilder auf die weiße Decke. Simone sieht sich um. Das Restaurant ist gut besucht, die Atmosphäre heimelig. Vorwiegend Paare sitzen an den Tischen. „Das hätte ich mir denken können, Jannik und ich haben in unserer 12- jährigen Geschichte hier schon mehrere Urlaube verbracht“. Wehmut wallt in Simone auf wie Wellen, die der Wind ans Land treibt.
„Schluss mit dem Selbstmitleid. Du hast diesen Urlaub bewusst gebucht, weil du dir beweisen willst, dass du auch ohne ihn hier glücklich sein kannst. Also fang damit an“. Simone seufzt. Die innere Stimme, die sich immer lauter zu Wort meldet, nervt sie.
„Ist ja gut“, murmelt Simone vor sich hin. Sie nimmt einen Schluck des tiefroten Weins. Lehnt sich im Stuhl zurück. Schaut hinaus ins Abendrot.
Plötzlich schreckt sie hoch. Dieses Lachen. Es geht ihr durch Mark und Bein. Sie kennt es seit dem 1. Tag in der Grundschule. Tina? Kann das sein? Vorsichtig schaut sich Simone um. Das Lachen kommt von irgendwo hinter ihr. Sie sieht zu wenig. Rutscht mit dem Stuhl zu Seite. Schaut noch einmal. Tatsächlich – dort sitzt Tina. Und sie ist nicht allein. Mit dem Rücken zu Simone sitzt ein Mann, der Tinas Hand hält. Simone schnappt nach Luft. Überall hätte sie ihn erkannt. Überall!
Simones Vernunft verabschiedet sich. Sie steht auf. Geht auf die beiden zu. Tina sieht auf, als Simone am Tisch stehen bleibt. „Oh“, sagt sie nur. Mit großen Kulleraugen sieht Tina Simone an.
„Was machst du denn hier?“, fragt sie.
„Das solltest lieber du mir beantworten“, sagt Simone. Sie sieht zwischen Tina und Jannik hin und her.
Tina zuckt zusammen. Jannik auch. „Was willst du hier vor? Verfolgst du uns?“, will Jannik von Simone wissen.
Simone schnappt nach Luft. „Woher sollte ich wissen, dass ihr jetzt hier seid? Du hast seit Monaten nicht mehr mit mir gesprochen“.
Jannik schüttelt den Kopf. „Mach jetzt bloß keine Szene, Simone. Du musst akzeptieren, dass wir jetzt ein Paar sind. Also geh wieder und schau, dass du uns nicht dauernd über den Weg läufst“.
Simone starrt Jannik an. Dann dreht sie den Kopf zu Tina. „Und du, Tina, hast du mir was etwas zu sagen?“
Tina schweigt. Lange. Schließlich holt sie Luft und sagt: „Ich weiß gar nicht, was du willst. Die Liebe kommt, die Liebe geht und bei dir ist sie gegangen“. Simone schaut Tina in die Augen. „Sechsundzwanzig Jahre Tina, wir waren sechsundzwanzig Jahre befreundet. Und das wirfst du weg? Einfach so?“
Tina schüttelt den Kopf. „Sei nicht so sentimental. Du hast mir all die Jahre geholfen, aber jetzt brauche ich dich nicht mehr. Jetzt habe ich, was ich so lange wollte. Also, tschüss“.
Da greift Simone nach der vollen Rotwein-Karaffe, die auf dem Tisch steht. Mit einer schnellen Bewegung kippt sie die Karaffe über Tina aus. Leise stellt sie sie zurück und ehe Tina oder Jannik reagieren können, greift Simone nach dem Suppenteller, in dem die Tomatensuppe dampft. Sie nimmt den Teller und leert ihn über Janniks Schoss aus. Den Teller lässt sie hinterherfallen. Dann drehte sie sich um und geht.
„Schreiben Sie die Kosten meines Essens auf mein Zimmer“, sagt sie zu dem Kellner, der sie zur Tür bringt.
„Gern, gnädige Frau“, sagt er. Und als er ihr die Türe aufhält, raunt er ihr ein „ich lasse ihn gleich noch ein wenig länger leiden“ zu.
Sein Zwinkern sieht Simone nicht mehr.
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Ich habe 7 von 12 Wörtern untergebracht. Welche hättest Du genommen?
Foto: © Erwin Grundler
Wähle 7 aus 12 Wörtern aus und bringe den Satz „Wie wenig wir einander kennen“ unter. Die Zahl der Wörter ist egal. Die Idee stammt von hier: https://365tageasatzaday.wordpress.com/2022/07/10/7-aus-12-etuedensommerpausenintermezzo-ii-2022/
Das mit der Freundin trifft mich viel mehr als sein Auszug. Ehen scheitern, aber diese Sorte Verrat geht tief. Leider (dramaturgisch gesehen) hatte ich mir das schon gedacht, als ich las, dass sich die beste Freundin seit der Trennung merkwürdig zurückhält, also genau das tut, was man dann weder braucht noch erwartet, und da hätte ich gedacht, dass sie viel intensiver und früher nachhakt 🤔. Den Abgang finde ich hingegen echt gelungen, bitter hin oder her. Deine Protagonistin tut mir leid.
Freut mich, dass du Lust hattest mitzuschreiben! 😀
Herzliche Morgenkaffeegrüße 🌞🌳☕🍪🌼👍
Liebe Christiane,
ja, da hast du recht – der Freundinnen-Verrat schmerzt sehr.
Zum Thema dramaturgisch gesehen: Ich habe beim Schreiben und beim Abschreiben überlegt, ob ich den Satz stehen lassen soll oder nicht. Es war mit schon klar, dass das in eine Richtung lenkt. Dass er stehenblieb war eine reine Bauchentscheidung.
Und der Abgang gefällt mir auch.
Liebe Grüße
Judith