#Etüdensommerpausenintermezzo: Kindheit – das entschwundene Land

Achtung – wurde von Kindern gegenüber den Erwachsenen gefordert. Kindern Achtung entgegenzubringen dagegen, das erschien den Erwachsenen leider häufig unnötig.

Bücher – ich las. Bücher gab es bei uns zu jedem Geburtstag und zu Weihnachten. Allerdings konnte ich nicht, wie heutige Kinder, in die Bücherei gehen, um selbst Bücher auszuleihen oder womöglich selbst eigene Bücher kaufen.

Café – es gab das Café Hoch. Ob ich dort jemals als Gast war? Das weiß ich wirklich nicht. Die Erinnerungsfetzen, die ich dennoch daran habe, beinhalten roten Samt und viel dunkles Holz. Und ich weiß genau, wo es war und wo es zur Türe hineinging.

Durchhalten – dranbleiben, nicht aufgeben, durchkämpfen, immer wieder neu beginnen – das machte meine Kindheit aus. Eine Eigenschaft, für die ich einerseits dankbar bin, andererseits weiß ich auch, dass sie ins <Aus der Überforderung> führen kann.

Essen – gegessen wurde, was auf den Tisch kam und was mir auf den Teller gegeben wurden. Und mehr als einmal musste ich am Tisch sitzen bleiben, bis der Teller leer gegessen war.

Familie – „Was in der Familie passiert, bleibt in der Familie, das geht niemanden etwas an“. So lautete unser Familienmotto. Eine Tragik für uns Kinder, wie ich später begreifen sollte.

Gehorchen – Am besten schnell und ohne jeden Widerspruch, das war bei uns zu Hause, und auch bei vielen meiner Freundinnen, das Gebot der Stunde. Da spielte es keine Rolle, ob die Anordnungen Sinn hatten oder nicht.

Helfen – ja, wir mussten zu Hause helfen. Viel helfen. Wir mussten auch Dinge tun, die weit über helfen hinausgingen (Vergleiche K). „Es hat dir nicht geschadet“, pflegte meine Mutter immer zu sagen – wobei sie damit nur in Teilen recht hatte.

Ideal – das ideale Mädchen war zurückhaltend, höflich, gab brav die Hand, knickte und mischte sich nie ungefragt in ein Gespräch ein.

Jahrmarkt – das gab es bei uns in Form sogenannter Krämermärkte. Von Unterhosen über Nadeln und Gummiband, Herren Taschentüchern, Hüten, Mützen, Gewürzen, Süßigkeiten, Kleidung und gebratenen Würstchen, gab es da alles Mögliche zu kaufen. Diese Krämermärkte gab es mehrfach im Jahr. Erinnern kann ich mich an drei: den Frühjahrsmarkt, den Herbstmarkt und den Nikolausmarkt.

Küchendienst – wir Mädchen hatten Küchendienst. Regelmäßig. Jeweils eine Woche lang. Eigentlich. Unser Bruder musste keinen machen und meine jüngere Schwester bekam oft die Hilfe meines Vaters. Küchendienst, das hieß: den Tisch abräumen, die Geschirrspülmaschine einräumen, Töpfe und Schüsseln spülen, abtrocknen und aufräumen, die Arbeitsflächen saubermachen, das Spülbecken tropfenfrei putzen und den Boden kehren. Bei mir kontrollierte meine Mutter täglich aufs Genaueste – fand sie eine <runde Ecke>, hieß das eine Woche Strafküchendienst. Die längste Phase an Küchendienst dauerte für mich über fünf Wochen. Für meine Schwestern war das toll, denn in dieser Zeit hatten sie keinen Dienst.

Löwenbrückle – früher gab es beim <Faulen Pelz> eine kleine Holzbrücke. Ich erinnere mich an den Klang, wenn ich mit den Rollschuhen darüber gefahren bin.

Melancholie – an die erinnere ich mich vor allem aus den späten Kindheitsjahren in denen ich verstand, dass mein „Hier stimmt etwas nicht!“ kein Ahnen war, sondern Realität.

Neugier – ja, ich war ein neugieriges Kind. Heute würde man diese Eigenschaft vermutlich als Entdeckungsfreude fördern. Damals hieß es „sei nicht so neugierig“ und die Neugier war eindeutig negativ besetzt.

Ohren Weh – Mittelohrentzündungen plagten mich meine ersten sechs/sieben Lebensjahre regelmäßig. Irgendwann gab es nur noch zwei Möglichkeiten: Entweder, das Trommelfell durchstechen und hoffen, dass die Mittelohrentzündungen so ausheilen oder eine größere Operation. Meine Eltern entschieden sich für die Durchstechung des Trommelfells. Ich ging, als Erstklässlerin alleine zum HNO-Arzt, der nicht bekannt dafür war, zart besaitet zu sein.

Pferdeschwanz – das war die Frisur meine ersten Jahre: ein Pferdeschwanz mit Schillerlocken.

Quartett – nicht nur die Auswahl an Büchern ist heutzutage größer als damals, sondern auch die Auswahl an Spielen. Ich erinnere mich an Mensch ärgere dich nicht, Dame, Mühle, Halma – und eben an diverse Quartetts. Das spielten wir häufig.

Rollschuhe – was bin ich gern Rollschuh gefahren! Erinnerst Du Dich? Es gab die, die unter die Schuhe gebunden wurden. Mit einem passenden Schlüssel konnten sie vergrößert oder verkleinert werden. Bei uns zu Hause gab es ein paar Rollschuhe; sie gehörten uns allen, aber meine große Schwester hatte sie geschenkt bekommen. Wir durften sie benutzen, wenn sie nicht da war oder einen gnädigen Tag hatte.

Seilspringen – Seilspringen, das war eines meiner liebsten Hobbys: hierbei waren mein geringes Gewicht und die Körpergröße ein Plus für mich.

Tiere – anders als bei vielen anderen Kindern, waren Tiere nie ein Kindheitstraum von mir. Ich träumte von einem Klavier und vom Klavier spielen können.

Unfug – vieles von dem, was ich bei meinen Kindern und bei den Enkelkindern als Entdeckerfreude und ausprobieren bezeichnete, war in den Augen meiner Eltern und anderer Erwachsener Unfug.

Verstehen wollen – ja, ich schrieb es schon an anderer Stelle, ich wollte verstehen. Ich wollte verstehen, wie die Welt, das Leben, die Menschen sind und weshalb die Welt ist, wie sie ist.

Wille – der Willi ist tot, hieß es bei uns, wenn ich sagte <ich will oder ich will aber nicht>.

Xanthippe – dieses Wort hörte ich manchmal, wenn sich die Erwachsenen miteinander unterhielten. Ich erfuhr erst als Erwachsene, was damit gemeint war.

Youngster – auch diesen Begriff gab es in unserer Kindheit nicht.

Zug fahren – vor allem erinnere ich mich an die Fahrkarten. Braune, rechteckige Kartonstücke waren es. Das Ziel war aufgedruckt und der Schaffner lochte die Karte, wenn er sie kontrollierte. Ich erinnere mich, dass es einfarbig braune Katern gab – und zweifarbige. An die Zugfahrten erinnere ich mich hingegen nicht.

 

|WERBUNG WEGEN NAMENSNENNUNG UND VERLINKUNG, UNBEZAHLT|

 

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Wie würde Dein Alphabet zur Kindheit lauten?

Foto: © Grundler, Überlingen

 

Die #abcEtüden machen gerade Sommerpause. Christiane hat das Etüdensommerpausenintermezzo ausgerufen, hier https://365tageasatzaday.wordpress.com/2020/08/02/alphabet-etuedensommerpausenintermezzo-iii-2020/ findest Du den Link. Sie bittet darum, ein Oberthema auszusuchen, das Alphabet zu schreiben, zu jedem Buchstaben ein Wort zum Oberthema zu schreiben und die Worte dann mit ein paar Sätzen oder kleinen Geschichten zu ergänzen/erweitern.

 

 

15 Kommentare
  1. Werner Kastens
    Werner Kastens sagte:

    Kann ich zum großen Teil unterschreiben, so war es weitgehend bei mir auch. Das war die Denke damals. Aber für unsere Kinder und Enkelkinder haben wir viel draus gelernt und anders gemacht.

    Antworten
    • mutigerleben
      mutigerleben sagte:

      Da hast du recht, wir haben vieles anderes gemacht – und machen es auch heute anders.
      Und ja, das war die Denke; meine Eltern waren auch schon so erzogen – und sie waren beide im Krieg – das hatte noch einmal eine andere Bedeutung. Inzwischen gibt es da hilfreiche Literatur, die beim Verstehen hilft.
      Herzliche Grüße zu dir, lieber Werner,
      Judith

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  2. Christiane
    Christiane sagte:

    Da schwingt für mich immer noch viel Bitterkeit mit, bei dem, was du schreibst. Ich lese und nicke. Davon kenne ich ebenfalls einiges – ich denke, ich bin ein Stück jünger als du, aber unsere Eltern dürften ähnlich alt gewesen sein.
    Danke, dass dich die Alphabete nicht loslassen! :-D
    Liebe Grüße
    Christiane :-)

    Antworten
    • mutigerleben
      mutigerleben sagte:

      Liebe Christiane,
      danke dir.
      Ach, weißt du, im Alltag kann ich damit ganz gut umgehen, wobei das ein oder andere immer mal wieder aufploppt.
      Es so geballt zusammengefasst zu sehen – das ist noch einmal anders. Außerdem hatte ich gerade in den Tagen, bevor ich das schrieb, wieder einmal deutlich vor Augen, was diese Erziehung auch heute noch anrichtet. Da konnte ich beobachten, wie ein Vater mit seinen Kindern umging – er ist mindestens 20 Jahre jünger als ich, wurde aber in diesem Stil erzogen (außer helfen und Küchendienst) – und er gibt die Vorstellungen seiner Eltern ungefiltert an seine Kinder weiter. Wenn ich das so hautnah mitbekomme, dann löst das oft die alten Dinge wieder aus.
      Und ich weiß, mit jedem darüber sprechen/schreiben, löst sich ein wenig davon auf, gibt es eine größere Distanz zur eigenen Erfahrung.
      Abendgrüße
      Judith

      Antworten
  3. puzzleblume
    puzzleblume sagte:

    Dieses ABC zu erarbeiten war sicherlich mehr als nur Schreiben, meine Hochachtung!
    Manches der rüden Erziehung kommt mir bekannt vor, einiges davon etwas abgemildert, aber die unbegleiteten Gänge zum Zahnarzt ab dem frühen Kindergartenalter, weil der bloss ein paar Häuser weiter seine Praxis hatte, erinnere ich mich auch. Damals ging man nur zu schmerzhaften Ereignissen dorthin, und nicht bloss zur Kontrolle.

    Antworten
    • mutigerleben
      mutigerleben sagte:

      Ich danke dir sehr … Ja, das war es.
      Wie ich eben schon Christiane schrieb (s.o.), kam der Anstoß dazu von einer rüden Erziehung, die ich letzte Woche beobachten konnte. Und ich musste wieder daran denken, dass diese Dinge immer weitergehen, wenn sie nicht irgendwann reflektiert und abgeändert werden – was es ja, Gott sei Dank, oft gibt.
      Autsch – Zahnarztbesuche alleine, das ist auch heftig.
      Einen schönen abend und Grüße
      Judith

      Antworten
    • mutigerleben
      mutigerleben sagte:

      Ich danke dir für deinen Kommentar.
      Und ja, es war manchmal sehr schwer – gleichzeitig weiß ich auch, dass andere es noch schlimmer getroffen hat.
      Lebst du denn jetzt mit Tieren?
      Herzliche Grüße
      Judith

      Antworten
    • Olpo Olponator
      Olpo Olponator sagte:

      Leider nicht und Katzen hat doch jeder ;-) … ich hab 3 davon.
      Ich würde mir aber, bei passendem Umfeld, Ziegen und Hühner wünschen – so als AltersausgedingeGnadenbrotOrt für die Tiere und zum Anschau’n für mich … ;-)

      Antworten
      • mutigerleben
        mutigerleben sagte:

        Danke dir – ich nicht, ich habe keine Katzen!
        Soll ich die Daumen halten, dass das noch was wird mit dem Altersausgedingegnadenbrotort? Da fallen mir übrigens direkt die „Bremer Stadtmusikanten“ ein.
        Abendgrüße
        Judith

        Antworten
        • Olpo Olponator
          Olpo Olponator sagte:

          ‚Hat man doch‘ … da war bloß die Redensart gemeint.
          Ja bitte. Daumen halten. Ich hätte beinahe „gegen einen Esel oder zwei wäre auch nix einzuwenden“ oben geschrieben und der Umgang mit Hunden ist mir durchaus vertraut – bisher habe ich drei überlebt ;-)

          Antworten
    • mutigerleben
      mutigerleben sagte:

      Liebe Katharina,
      danke dir.
      Ja, manches bleibt sich ähnlich oder gleich – wir haben halt vom Vorbild gelernt und etwas zu verändern heißt an dem Punkt auch, sich mit dem Alten auseinanderzusetzen; das ist ja nciht unbedingt bequem.
      Abendgrüße
      Judith

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