Frau Piepenkrog in den Bergen
Frau Piepenkrog wischt sich die nasse Stirn. Sie ringt nach Atem. „Wie eine alte Dampflok hörst du dich an, Rosalinde“, sagt sie zu sich selbst. Mit einem Ächzen stellt sie den schweren Rucksack auf den Boden. Sie setzt sich auf den Boden ins warme Gras. Endlich ist sie angekommen. Ganz oben. Sie schaut hinunter. Ins Tal. In die Weite. In die Ferne. Die anderen Touristen, die von der Bergbahn in kurzen Abständen ausgespuckt werden, nimmt sie gar nicht wahr. „Ich habe es geschafft, juhu“, schreit Frau Piepenkrog. „Ganz alleine. Aus eigener Kraft. Die Anstrengung hat sich gelohnt!“ Sie schließt die Augen. Faltet die Hände vor ihrer signalroten Bluse. Zieht die dunkelbraunen Bergstiefel aus. Hält das Gesicht in die Sonne.
Das Reden und lachen der anderen Touristen verschmilzt zu einem tiefen Summen. Es lässt den Boden vibrieren. Hüllt sie ein. „Wie gut es mir hier geht“, lächelt Frau Piepenkrog und versinkt in einen Halbschlummer.
Irgendwann durchdringt Kaffeeduft die Blase, die sie um sich herum geschaffen hat. Sie greift nach ihrem Rucksack. Löst die braunen Lederschnallen und das Zugband. Nacheinander holt sie ein rot-weiß-kariertes Leinentuch, eine Tüte mit Äpfeln und Birnen, ein Schälchen voller ungeschälter Mandeln, zwei hart gekochte Eier und eine Vespertüte heraus. Sie breitet alles vor sich aus. Ein weißer Becher mit der Aufschrift <Genieße den Tag> findet ebenso auf dem Tuch Platz wie eine verbeulte Thermosflasche, die mit Nanaminze Tee gefüllt ist. Frau Piepenkrog beginnt zu essen. Genießerisch beißt sie abwechselnd in ein Käsebrot und in eine saftige Birne.
Da nähert sich ihr ein Rabe. Schon eine ganze Weile stand er ein Stück entfernt und schaute ihr zu. Langsam kam er dichter an sie heran. Frau Piepenkrog schaut ihm entgegen. „Na, du, “ sagt sie, „willst du auch was haben?“ Sie beißt einen Bissen von der Birne ab und legt ihn auf die flache Hand, die sie ihm hinhält. Der Rabe holt sich den Bissen behutsam. Er kommt näher. Ganz nah. Sein Kopf streicht über ihren Unterarm. Die schwarzen Federn glänzen. Die Augen – wie schwarze Edelsteine – schauen sie unverwandt an. Frau Piepenkrog schaut zurück. Lächelt. Beginnt, leise auf ihn einzureden. Unbewegt schaut er Frau Piepenkrog an. Gemeinsam essen sie zu Ende.
Dann sind sie beide still. Schauen ins Tal. „Weißt du“, sagt Frau Piepenkrog, „manchmal, wenn mir da unten alles zu viel wird, gehe ich irgendwo in die Höhe. Dann schaue ich nach unten und meine Perspektive verändert sich. Die Dinge werden kleiner. Mein Blick weitet sich. Ich sehe wieder, was wichtig ist. Wirklich wichtig ist. Das kennst du auch, oder? Tut dir der Überblick gut?“
Der Rabe schaut sie an. Reibt den Schnabel an ihrer Wange. Hüpft auf ihren Schoß. Schaut sie an. Ausdauernd. Sein Schnabel bewegt sich, als ob er sprechen würde. Frau Piepenkrog bleibt regungslos sitzen. Hört ihm zu. Ab und ab nickt sie mit dem Kopf. „Da hast du recht, mein Lieber“, entgegnet sie leise.
„Jetzt wird es Zeit für mich zu gehen“, sagt sie. Sie streicht dem Raben über den Kopf. „Komm mich doch mal besuchen, da unten im Tal“, lädt sie ihn ein. Als wolle er Ja sagen, nickt der Rabe dreimal mit dem Kopf. Dann dreht er sich um und fliegt weg. Dort, wo der Abstieg beginnt, lässt er sich nieder.
Frau Piepenkrog packt alles zusammen. Zieht die Stiefel wieder an. Schwingt den Rucksack auf den Rücken. Geht los. Als sie am Raben vorbei kommt, schlägt der mit den Flügeln. 1x, 2x, 3x. Dann krächzt er einen Abschiedsgruß. „Ja, versprochen, ich komme wieder!“ Frau Piepenkrog hebt die Hand und winkt. Sie beginnt den Abstieg. Ins Tal hinunter. Zurück in den Alltag. Gestärkt. Voll Freude und Zuversicht.
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