Frau Piepenkrog und der Internationale Frauentag

Wie jeden Tag ist Frau Piepenkrog unterwegs in der Stadt. Sie hat heute schon ihre Füße im See gebadet und, um sie wieder warm zu bekommen, in der Fußgängerzone zu den Liedern getanzt, die die rumänische Musikergruppe dort spielt. Sie hat sich gefragt, warum niemand mit ihr tanzen wollte. Da hat sie eben alleine getanzt. „Was soll‘s!“, hatte sie gedacht. Mit drei Bettlerinnen hat sie schon ein Gespräch mit Händen und Füßen geführt. Sie haben keine gemeinsame Sprache, verstanden haben sie sich trotzdem. Einige Regenwürmer, die auf dem Asphalt gestrandet sind, hat sie vor der Sonne in Sicherheit gebracht. Sie hat den Tulpen beim Wachsen zugesehen und den Blütenknospen der Apfelbäume Mut gemacht, sich zu öffnen. Zuletzt watschelte sie vor sieben Entenküken her, um sie unversehrt zu ihrer Mutter zurückzubringen, die das Fehlen ihrer Küken lauthals bequakte. Außerdem hat sie den grünen Leinenbeutel, in dem sie weggeworfenen Müll sammelt, bereits zur Hälfte gefüllt.

„Jetzt ist es Zeit für eine Pause“, sagt sie sich. Im „Café am Marktplatz“ findet sie einen Tisch in der ersten Reihe. „Fein, der hat auf mich gewartet“, ruft sie zum Nachbartisch hinüber. Sie lässt sich auf den Stuhl fallen, der bedrohlich knackst. „Immer mit der Ruhe, mein Guter“, gurrt sie, „Du brauchst keine Angst zu haben, ich bleibe ganz ruhig sitzen. Das hältst Du doch sicher durch, oder?“ sagt sie zum Stuhl und tätschelt seinen Rand.

Von links trifft sie ein Blick. Hochgezogene Augenbrauen. Der Mund nur ein schmaler Strich. Zusammengepresst. Kopfgeschüttel. Frau Piepenkrog lässt ihr Lächeln wachsen. „Ihnen auch einen guten Tag. Sitzen Sie gut?“

„Unverschämte Person“, zischt die Blondine, die an einer Zitronenscheibe lutscht, zurück.

„Ts, ts, ts“, macht Frau Piepenkrog, „welche Laus ist Ihnen denn über die Leber gelaufen?“ Die Blondine wird dunkelrot. Sie schnappt sich Tasche und Glas und eilt nach drinnen.

Frau Piepenkrog zuckt die Schultern. „Na, dann eben nicht!“ Sie lehnt sich zurück. Hält ihr Gesicht in die Sonne. Beobachtet, was um sie herum los ist. Sie träumt vor sich hin. Lässt es sich gut gehen. Ist froh, dass sie den Tag genießt. Fröhlich und lebendig ist.

Plötzlich taucht auf dem Marktplatz eine Gruppe Frauen auf. Einige tragen Plakate in den Händen. Andere haben Rosen dabei, die sie an die Cafébesucherinnen und vorbei gehende Passantinnen verteilen. Frau Piepenkrog, die längst den Kaffee ausgetrunken hat und ihre Käsesemmel verdaut, bezahlt und steht auf. Sie schlendert langsam zu den Frauen hinüber. Frauen aus allen Altersstufen sind da vertreten. Das überrascht Frau Piepenkrog. Während sie noch die Atmosphäre auf dem Platz und in der Gruppe in sich aufnimmt, beginnen zwei Frauen, auf die mitgeführten Pauken zu schlagen. Es wird ruhig auf dem sonst so lärmigen Platz. Menschen bleiben stehen. Bilden einen Halbkreis um die Gruppe. Es wird eng. Frau Piepenkrog wird eingeklemmt. Vor ihr stehen junge Frauen, hinter ihr eine Gruppe junger Männer. Eine der Frauen, sie mag so um die 30 Jahre alt sein, hebt das Megaphon und beginnt zu sprechen: „Heute ist der Internationale Frauentag. Wir sind dankbar für das, was wir Frauen schon erreicht haben. Und doch: So vieles fehlt noch. Vielen Frauen weltweit werden ihre Rechte vorenthalten. Frauen bekommen – auch hier – für gleiche Arbeit immer noch keinen gleichen Lohn. Frauen werden benachteiligt, wenn es darum geht, hoch qualifizierte Posten in der Wirtschaft zu besetzen. Wir fordern endlich die volle Gleichberechtigung für Frauen. Die Einhaltung der Frauenrechte, Bildung für Frauen, die Gleichstellung der Frauen und eine Sprache, die Frauen sichtbar macht!“

Viele klatschen. Einige Frauen rufen „Jawohl, richtig so!“ Manche schütteln den Kopf. Einige gehen.

Einer der jungen Männer hinter Frau Piepenkrog schreit „Schwachsinn! Gleichberechtigt seid Ihr doch schon lange, was wollt Ihr denn noch. Heute sind eher die Männer benachteiligt als die Frauen. Und unsere schöne, deutsche Sprache verhunzt Ihr, mit Eurem blödsinnigen Wunsch nach einer frauen- oder geschlechtergerechten Sprache! Ich bin dagegen. Ich mache nicht mit. Ihr seid doch mit gemeint. Reicht das nicht? Ich jedenfalls rede weiter so, wie ich es gewöhnt bin!“

Lautes Johlen. Rhythmisches Klatschen. Leisere Buhrufe. Die Stimmung droht zu kippen. Wo es vorher fröhlich und friedlich war, wächst jetzt Aggression.

Frau Piepenkrog dreht sich um. Ganz langsam. Zentimeter für Zentimeter. Sie schafft sich behutsam Platz. Tritt einen Schritt zurück. Schaut den jungen Mann, einen dunkelhaarigen Schönling, der jetzt vor ihr aufragt, an. Mustert ihn. Lässt den Blick gemächlich von oben nach unten wandern, Zentimeter für Zentimeter. Und zurück.

„Was“, schreit der junge Mann sie an. „Wieso schauen Sie mich so an? Ich bin hier im Recht, oder?“ Beifall heischend schaut er seine Freunde an. Diese nicken unterstützend.

„Was!“ gibt Frau Piepenkrog zurück. „Ich habe doch gar nichts gesagt, junge Frau!“ Der junge Mann schaut Frau Piepenkrog mit offenstehendem Mund an. „Wie haben Sie mich gerade genannt?“, fragt er entgeistert.

„Ich sagte, ich habe nichts gesagt, junge Frau!“

Der Schönling richtet sich auf. Aus 1,90 Meter Höhe schaut er auf Frau Piepenkrog herab. „He, Alte, mach mal Deine Augen auf – ich bin keine Tussi, ich bin ein Mann“, schnauzt er sie an.

„Ach was!“ Frau Piepenkrog ist die Ruhe in Person. „He, Fräuleinchen, nun seien Sie mal nicht so empfindlich“. Frau Piepenkrog verschränkt die Arme ganz fest vor ihrem Oberkörper. Sie nimmt ihn ins Visier. Lässt sich auf ein Blickduell mit ihm ein. Gewinnt es ohne Mühe. Sie schweigt. Und schaut. Und steht. Fest. Unverrückbar. Sicher. Längst verfolgen alle anwesenden Frauen das Geschehen. „Die spinnt doch, die Alte“, sagt der junge Mann zu seinen Freunden und tippt sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe. Die anderen nicken beifällig mit dem Kopf. „Lass die Alte schwätzen. Die weiß doch gar nicht mehr, was sie sagt“.

„Oh doch, das weiß die Alte ganz genau“. Frau Piepenkrog dreht den Kopf. Nimmt den zweiten jungen Mann fest ins Visier. „Ihnen auch einen guten Tag, junge Frau!“, sagt sie freundlich. Sind Sie auch so gern mit Ihren Freundinnen unterwegs, wie ich es früher war?“

„Jetzt reicht’s mir aber“, schreit der Schönling. „Rede mich endlich als Mann an.“ Er rückt drohend näher an Frau Piepenkrog heran. Frau Piepenkrog beäugt die jungen Männer. Einen nach dem anderen. In aller Ruhe. Sie lächelt sie voller Wärme an. „Aber, aber …“, erwidert sie freundlich, „kein Grund, gleich in die Luft zu gehen.“ Sie pikst mit ihrem Zeigefinger dem Schönling in den Bauch und sagt: „Treten Sie ein bisschen zurück, junge Frau, ich kann es nicht leiden, wenn mir jemand so auf die Pelle rückt!“ Sie weicht nicht von der Stelle. Gibt keinen Millimeter nach.

Der Schönling gibt nach. Weicht zurück. Einer nach dem anderen tut es ihm gleich.

„Wissen Sie, junge Frau“, sagt Frau Piepenkrog, „ich wundere mich über Sie. Sehr sogar. Ich kann einfach nicht verstehen, weshalb es Sie so stört, als Frau angesprochen zu werden. Was ist denn daran so schlimm?“

Der Schönling schreit: „Sie! Sie! …“ Er weiß nicht, was er sagen soll. Frau Piepenkrog wartet. „Lassen Sie sich ruhig Zeit, meine Liebe“.

Jetzt explodiert der junge Mann: „Ich bin ein Mann. Ich will als solcher angesprochen werden. So gesehen werden. Gemeint sein und wahrgenommen werden“, stößt er wütend hervor.

„Aber, meine Liebe, Sie sind doch mit gemeint“, erwidert Frau Piepenkrog lächelnd.

„Ich will aber nicht mit gemeint sein“, schreit er zurück und stampft mit dem Fuß auf.

„Sehen Sie, das kann ich gut verstehen. Wir Frauen haben seit Jahrhunderten Erfahrung darin, nur mit gemeint zu sein, nicht sichtbar zu sein, als Frau nicht wahrgenommen zu werden. Uns gefällt das auch nicht. Vielleicht denken Sie einmal darüber nach.“

Sie macht einen Schritt nach vorne. Noch einen. Und noch einen. Die jungen Männer öffnen eine Gasse für sie. Es sieht aus, als würden sie Spalier für sie stehen. Frau Piepenkrog schwebt hindurch. Ohne einen Blick zurück.

 

(© Judith Manok-Grundler, 12. März 2017)
2 Kommentare
  1. Mirijam
    Mirijam sagte:

    Sooo klasse! Herzlichen Dank, liebe Judith!!! :) Das wäre mal eine Idee, wenn es demnächst mal wieder um Texte und Lesbarkeit geht ;)
    Über Frau Piepenkrog lese ich nach unserem Osterwochenende. Freue mich schon darauf! LG Mirijam

    Antworten
    • mutigerleben
      mutigerleben sagte:

      Liebe Mirijam,

      danke für Deine Rückmeldung. Tja, das Thema ist eine unendliche Geschichte.
      Ich selbst habe vor ca. 20 Jahren beim Katholikentag in Karlsruhe die Erfahrung machen dürfen, wie sich ein Mann aufregte, weil er sich „nur“ mitgemeint fühlte. Damals habe ich zu ihm und den Umstehenden gesagt: .
      Da das leider (m)ein Traum blieb, plagen wir uns heute immer noch mit Diskussionen zu einer „Geschlechtergerechten Sprache!“
      Ich finde, Frau Piepenkrog hat das richtig gut hinbekommen.

      Liebe Grüße zurück
      Judith

      Antworten

Hinterlasse einen Kommentar

An der Diskussion beteiligen?
Hinterlasse uns deinen Kommentar!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert