Neues von Frau Piepenkrog

Frau Piepenkrog ist wieder aufgelebt. Es hat mir sehr viel Spaß gemacht, sie aus der Versenkung zu holen. Es ist allerdings wichtig, Frau Piepenkrog kennenzulernen. Hier https://mutigerleben.wordpress.com/2017/04/14/das-ist-frau-piepenkrog/
kannst Du das tun!

 

Frau Piepenkrog schreibt. Sie schreibt im Gehen. Im Liegen. Im Stehen. Im Sitzen. Im Bus. Unterwegs. Zuhause. Sie schreibt Worte. Sätze. Geschichten. Gedichte. Sie schreibt vom Leben. Vom Bunten, Seifenblasenleichten, gelingenden Leben. Sie schreibt, weil sie es will. Und sie schreibt, weil sie spürt, dass es wichtig ist.

Frau Piepenkrog trägt den Stempel „schrullig“. Schon so lange, dass es ihr nichts mehr ausmacht, wenn die Menschen tuscheln und mit dem Finger auf sie zeigen, nur, weil sie beim Schreiben vor sich hin murmelt. Frau Piepenkrog trägt das „schrullig“ mit Würde und gleichbleibender Freundlichkeit. Jeder und jedem schenkt sie ein Lächeln und ein von Herzen kommendes „Grüß Gott“. Mit den modernen Grußformeln wie <Hi oder Hallo> kann sie nichts anfangen. „Grüß Gott“, das ist etwas Handfestes, findet sie. Sie glaubt, dass damit alle Menschen etwas anfangen können, auch, wenn die Menschen weder religiös noch kirchlich gebunden sind. „Gerade dann“, sagt sich Frau Piepenkrog, „ist es wichtig, denn dann weicht die Grußformel vom Alltäglichen ab und alles, was hilft, einen Schritt aus den eingefahrenen Gleisen herauszutreten, ist von Bedeutung“.

An manchen Tagen, wenn das Engelchen Übermut Purzelbäume schlägt, greift Frau Piepenkrog tief in die Mottenkiste der Begrüßungsformeln. Sie holt dann das alte <Gott zum Gruß> heraus, bläst den Staub ab und befreit es von den Spinnweben, die sich im Lauf der Jahrzehnte angesammelt haben. Und dann wirft sie das <Gott zum Gruß> den Menschen vor die Füße, haucht es ihnen ins Gesicht, hält es ihnen hin, legt es ihnen ans Herz. Und sie wartet auf das, was geschehen wird.

Heute ist so ein Tag. Frau Piepenkrog kann sich nicht mehr daran erinnern, wie oft sie heute diesen Gruß schon gesagt hat. Sicher ist sie aber, dass er keinerlei Wirkung zeigt. Niemand schaut sie mit großen Augen an. Niemand schüttelt den Kopf über sie. Niemand prustet hinter vorgehaltener Hand und keiner sagt „Verpiss dich, Alte!“ Heute sind die Menschen anders. Sie hasten aneinander vorbei. Schneiden sich den Weg ab. Schauen, ohne irgendetwas wahrzunehmen. Niemand bemerkt die Seifenblasen, die ein kleines Mädchen in die Luft pustet. Niemand entdeckt den Löwenzahn, der sich durch die Teerdecke schiebt. Niemand sieht die blühenden Forsythien oder die Traubenhyazinthen, die sich dunkel vom zartblau des Himmels abheben. Und niemand sieht das Lächeln von Frau Piepenkrog.

Da hat sie genug. Sie erinnert sich an das Versprechen, das sie Frau Spökensiel neulich gegeben hat. „Eines Tages“, hat sie gesagt, „werde ich am Marktplatz auf den Brunnen steigen und ein selbstverfasstes Gedicht vortragen“. Frau Spökensiel hat nur den Kopf geschüttelt. Aber das kennt Frau Piepenkrog ja zur Genüge.

Sie eilt zum Marktplatz. Stellt ihre Tasche auf dem Brunnenrand ab. Dreht sich um und sagt zu dem Mann, der hinter ihr vorbeigeht: „Junger Mann, wären Sie so freundlich, mir auf den Brunnen zu helfen?“ Sie schiebt ein „Bitte!“ nach, als der Mann keine Reaktion zeigt. Dann reagiert er und hilft ihr nach oben. Frau Piepenkrog steckt sich die Finger in den Mund und pfeift. Ohrenbetäubend laut. Viele Menschen bleiben stehen. Schauen zu ihr hinauf. Einige Menschen lachen. Da pfeift sie noch einmal. Der Pfiff fliegt über den Marktplatz. Die Menschen verstummen. Und als es ganz ruhig ist, trägt sie ihr Gedicht vor.

Ich bin es, ja, die kleine Dicke,
scher mich nicht um eure Blicke.
Stattdessen freu ich mich und lache,
denn ich liebe, was ich mache.

So manche von euch tun mir leid –
sie tragen zwar ein schönes Kleid,
wenn es jedoch an Freude mangelt
und man sich nur durchs Leben hangelt,

dann ist es Zeit, ihr ahnt es sicher,
aufzuhören mit Gekicher
und ernst und ehrlich sich zu fragen
<warum will ich nichts Neues wagen>?

Ein wenig Wahnsinn, glaubt es mir,
öffnet euch so manche Tür.
Das Leben wird, ihr glaubt es nicht
Viel mehr Kür statt Muss und Pflicht.

Ich lad‘ euch ein, kommt mit mir mit,
wir gehen langsam, Schritt um Schritt,
dann zeig ich euch – gern und von Herzen,
das bunte Leben, ohne zu scherzen.

Es gibt so vieles, das beglückt,
die Seele nachhaltig entzückt,
und habt ihr ’s erst einmal gefunden
ihr werdet Stück um Stück gesunden.

Niemand sagt ein Wort, als sie fertig ist. Niemand sagt ein Wort, als sie mithilfe des jungen Mannes wieder vom Brunnenrand steigt. Niemand sagt ein Wort, als sie nach ihrer Tasche greift und losgeht. Niemand sagt ein Wort. Aber die Menschen treten zur Seite und öffnen ihr eine Gasse. Und als Frau Piepenkrog sie fast durchschritten hat, beginnt jemand zu klatschen. Das Klatschen setzt sich fort. Es folgt Frau Piepenkrog auf ihrem Weg nach Hause.

 

DSC_5031

 

© Judith Manok-Grundler, Überlingen, 26. März 2020
 © Judith Manok-Grundler, 26. März 2020

16 Kommentare
  1. Christiane
    Christiane sagte:

    Gott zum Gruß, Frau Piepenkrog! Schön, hier Ihre Bekanntschaft zu machen, bzw. Ihren Namen zu erfahren. Vielleicht erinnern Sie sich an mich? Ich bin eine, die gerne scheinbar verloren in der Gegend herumsteht und mit Vorliebe zurücklächelt und -grüßt. Im Lächeln bin ich sogar richtig gut.
    Ihnen wünsche ich einen sonnigen Tag! Bleiben Sie gesund in dieser schwierigen Zeit!
    Ihre
    Christiane 😁🌞☕🍪👍

    Antworten
    • mutigerleben
      mutigerleben sagte:

      Gott zum Gruß, meine Liebe. Ja, ich glaube ich erinnere mich. Sie standen rechts neben dem Brunnen und, aus dem Augenwinkel habe ich das Lächeln gesehen – es war so herzlich, dass ich den Kopf drehte und Sie anschaute. Ja, ich erinnere mich.
      Tragen Sie Sorge zu sich und denken Sie daran: Sie sind nicht allein.
      Ihre
      Rosalinde Piepenkrog

      Antworten
    • mutigerleben
      mutigerleben sagte:

      Danke gleichfalls, Frau Tanja. Ich komme jetzt wieder öfter vorbei.
      Es könnte übrigens sein, dass Sie sich erinnern – es gab schon einige Geschichten von mir. Die können Sie unter meinem Namen nachlesen, falls Ihnen danach ist.
      Haben Sie heute Sonne getankt?
      Ich ja – denn scheinbar soll das wetter wieder schlechter werden. Zeit, meine Winterschuhe aus dem Schrank zu holen.
      Herzliche Abendgrüße
      Rosalinde Piepenkrog

      Antworten
    • mutigerleben
      mutigerleben sagte:

      Danke, danke. Das freut mich. Ihc hoffe, dein Herz ist eine ganze Weile gehüpft.
      Bitte schön, sehr gern – und übrigens gibt es noch ein paar ältere Texte von Frau Piepenkrog. Schau mal, wenn du magst.
      Liebe Grüße
      Judith

      Antworten
      • Seelenstreusel
        Seelenstreusel sagte:

        Liebe Judith,
        mein Herz ist noch den restlichen Tag gehüpft (die Geschichte von Frau Piepenkrog hat mich durch den Tag getragen, der mit Sonnenschein und warmen Temperaturen eh schon toll war). Vielen Dank für den Hinweis zu den bisherigen Geschichten von Rosalinde (hach, was für ein schöner Name!) – ich hatte nur den 1. Beitrag, den du verlinkt hattest, gelesen, bevor ich diese Geschichte hier gelesen habe (hat das jetzt Sinn gemacht? :D ). Ich werde gleich rüberhüpfen und mir meine heutige Dosis Rosalinde-Piepenkrog abholen. <3
        Liebe Grüße und einen schönen Sonntag!
        Karina

        Antworten
        • mutigerleben
          mutigerleben sagte:

          Liebe Karina,
          Das freut mich sehr.
          Rosalinde, ja, das gefällt mir auch. Und wie du das liest, ist egal.
          Wir hatten gestern auch einen schönen Tag. Heute ist es wie angekündigt kalt und nass.
          Herzliche Abendgrüße
          Judith

          Antworten
    • mutigerleben
      mutigerleben sagte:

      Ja, ich find sie auch herzig und selbstbewusst. Weiß gar nciht, weshalb ich sie so lange in der Versenkung gelassen habe.
      Es gibt noch mehr von ihr zu lesen (frühere Beiträge) – falls du magst, kannst du dich unter ihrem Namen gern mal umschauen.
      Bleib gesund.
      Schönes Wochenende und liebe Grüße
      Judith

      Antworten

Hinterlasse einen Kommentar

An der Diskussion beteiligen?
Hinterlasse uns deinen Kommentar!

Schreibe einen Kommentar zu stachelbeermond Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert