Schreiben in der Ausstellung

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Zu dritt waren wir gestern Nachmittag in der Fotoausstellung des Fotoklubs Überlingen. Wir hatten Lust, uns von unterschiedlichen Fotos zum Schreiben inspirieren zu lassen. Ich lud zu drei unterschiedlichen Schreibaufgaben ein – bei zweien konnte sich jede ein Foto aussuchen, bei der dritten Aufgabe ließen wir uns alle von dem gleichen Foto zum Schreiben anregen. Aufgabe war es, sich vom Foto der Pfahlbauten, die wir alle von früheren Ausflügen kennen, zu einer Erinnerungsgeschichte animieren zu lassen. Dabei entstand die folgende Geschichte.
Hanna steht am Ufer des Bodensees. Schwer stützt sie sich auf ihren Stock. Sie ist allein. Die Schlaflosigkeit sorgt dafür, dass sie zeitig unterwegs ist an diesem Frühsommermorgen. Leichter Dunst schwebt über dem See. Die Pfahlbauten stehen still im Wasser. Stumme Zeugen vergangener Zeit.

„Schön ist es hier. Mein Gott, wie lange war ich nicht mehr hier“, murmelt sie leise. „So lang schon, so lang“. Sie lässt den Blick hinüber wandern zum anderen Ufer und über die Pfahlbauten hinweg. Dann dreht sie sich um. Humpelt zur nächsten Bank. Lässt sich nieder. Sie lehnt sich an. Ihre Beine und Hände zittern. Hanna schließt die Augen. Wendet das Gesicht zum Himmel. Sie hadert mit sich. „Wie konnte ich nur so lange wegbleiben. So viel Schönes ist mir entgangen. Was habe ich nur alles verpasst.“Offenbar hat sie diese Gedanken laut ausgesprochen, denn plötzlich hört sie „Und warum bist du weggeblieben?“ Hanna macht die Augen auf. Setzt sich aufrecht hin. Sieht sich um. Neben der Bank hockt ein Mädchen. Es schaut sie an. „Sag, hättest du nicht einfach kommen können?“ Hanna zuckt mit den Schultern. „So einfach ist das nicht. Damals war es schwer für mich, hierzusein. Ich war voller Enttäuschung, Wut und Ärger. Und so sehr verletzt! Weißt du, die Menschen haben hinter vorgehaltener Hand über mich geredet. Manche auch ganz offen, denen war es egal, dass ich sie gehört habe. Es gab Menschen, die haben die Straßenseite gewechselt, wenn ich ihnen entgegen- gekommen bin. Und nicht einmal die Mutter meiner Schulfreundin hat mehr mit mir gesprochen. Das war schlimm. Irgendwann habe ich es nicht mehr ausgehalten und bin abgehauen. Ich wollte nur weg. Weit weg. Alles vergessen. Alles hinter mir lassen. Mich nicht mehr daran erinnern müssen. Deshalb bin ich nicht mehr zurückgekommen.“ Hannas Worte verklingen. Sie seufzt.

Das Mädchen sieht Hanna an. „Schau mal“, sagt sie und zeigt ihr einen dunkelgrauen Stein, dessen Oberfläche von einem breiten weißen Streifen geteilt wird. „Nimm, der ist für dich!“ Hanna greift nach dem Stein. Er ist ganz warm. „Und jetzt tut es dir leid, dass du nie mehr gekommen bist“, sagt die Kleine. Es ist keine Frage.Hanna überlegt. „Ja“, antwortet sie dann, „ja, jetzt tut mir das leid, weil ich all das Gute, das es auch gab, mit weggeschoben habe. Für mich gab es nur die Bosheit. Ich konnte nichts anderes sehen damals. Vielleicht wollte ich es auch nicht, wer weiß!“
Hanna sieht erst das Mädchen an, dann schaut sie wieder über den See. „Duuu, warum suchst du nicht jetzt nach den guten Sachen von früher? Meine Mama sagt immer, dass nichts verloren geht“.

Hanna lacht auf. „Meinst du, ich soll versuchen, meine Erinnerungen auszugraben?“„Ne, nicht versuchen, machen! Jetzt!“ Die Kleine schaut zu ihr hoch. Die beiden schweigen. Eine Amsel singt ihr Morgenlied. Wasser platscht leise ans Ufer.

„Da vorne, da habe ich mit meiner Freundin Cordula immer gespielt. Wir haben Steine gesammelt und sie angemalt. Türme gebaut und Steine übers Wasser flitschen lassen. Ich erinnere mich an eine Fahrt mit dem Schiff nach Konstanz und eine Zugfahrt nach Schaffhausen. Hui, hatte der Rheinfall da viel Wasser“. Hanna schweigt. Das Mädchen streichelt ihre Hand. „Und was noch?“ Bilder blitzen vor Hannas Augen auf. Sie sieht sich an Vaters Hand mit dem Rucksack auf dem Rücken zum Hohentwiel hinaufsteigen. „Papa und ich waren oft wandern. Er kannte alle Blumennamen. Ich glaube, dass ich die heute noch kenne, kommt von damals. Und zum Geburtstag gab es immer ein Buch und …“„Geht doch“, fällt ihr das Mädchen ins Wort und strahlt sie an. „Und bestimmt gibt es da noch viel mehr Erinnerungen“. Sie steht auf. „Ich muss jetzt heim, aber du kannst noch weitersuchen“.
Wie der Blitz ist sie fortgerannt. Hanna aber bleibt sitzen. Sie lächelt zu den Pfahlbauten hinüber. Stumme Zeugen vergangener Zeit.

© Judith Manok-Grundler, 22.11.2019

 

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Foto: Erwin Grundler, Überlingen-Aufkirch
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