Sonntagsgedanken: Gefühlswirrwarr
Angesichts der aktuellen Tage lebe ich in einem Gefühlswirrwarr. Da sind Angst und Schrecken, Mitgefühl, Unsicherheit, Wut und Zorn, Hilflosigkeit und Ohnmacht. Und ja, irgendwo dazwischen meldet sich auch noch ein wenig Hoffnung.
Wenn ich in den vergangenen Wochen den Reden des Herrn P. lauschte, verschwanden mit jedem weiteren Satz meine Zweifel. Mir war bewusst, dass sein Geschwätz nur ein Ziel hat: Die anderen einzulullen, während er seine Pläne zur Vollendung bringt. Und trotzdem: Ich wollte es einfach nicht glauben. Ich hielt an der Hoffnung fest, dass es doch noch anders käme!
Der Rest ist Geschichte wie es so schön heißt.
Und nun? Jetzt toben die Gefühle – vermutlich nicht nur bei mir.
Manches hat sich verschoben, manches hat an Bedeutung verloren – so, wie das vor zwei Jahren, zu Beginn der Pandemie – auch war. Während die Pandemie mir und uns zwar vieles abverlangte, gab es dennoch Spielraum und Handlungsfähigkeit.
Das ist jetzt anders. Ausgelöst durch diesen Krieg, der jegliches Völkerrecht bricht und die Welt an den Rand des Abgrunds bringt, begegnet mir vor allem Hilflosigkeit und Ohnmacht – und zwar auf allen Ebenen.
Und während viele dazu aufrufen, für die Menschen in der Ukraine und für den Frieden zu beten, falle ich um 48 Jahre in der Zeit zurück.
Ich bin wieder jung. Gerade volljährig geworden. Ich spüre, wie meine Familie zerbricht. Ich weiß, dass mein Vater ein Alkoholproblem hat. Wir wissen es alle. Er aber leugnet es. Blockt ab. Lässt nicht mit sich reden.
Ich bitte meine Mutter, Hilfe zu suchen. Für uns alle. Sie aber blockt ab „Was werden die anderen sagen?“
Ich spüre, wie wir auseinanderdriften. Da gibt es keinen Halt mehr. Wie soll es weitergehen?
Wo sind jetzt die Kollegen meines Vaters, die, wie er, der Kirche dienen und in ihrem Namen von Mitmenschlichkeit reden? Die, die über Jahre hinweg seine Unterstützung – auch auf Kosten unserer Familie – genossen haben? Alle ducken sie sich weg, alle bis auf zwei. Die zwei wollen ein Gespräch mit meinem Vater. Er aber will nicht. Und dann war es das. „Es tut uns leid, wir können nichts für euch tun, aber wir beten für euch!“ Dann waren sie nie mehr gesehen; bis zu seiner Beerdigung über 20 Jahre später.
Ich sage es ehrlich: Das war ein Schlag ins Gesicht für mich. Seither kann ich es nicht mehr hören, dieses „Ich bete für dich“.
Nur damit ich nicht falsch verstanden werde: Ja, ich weiß, dass das Gebet eine große Kraft entfalten kann – das will ich überhaupt nicht in Abrede stellen. Ich aber habe eben auch erlebt, was es mit einem Menschen macht, wenn das Gebet als Rechtfertigung fürs Wegschauen und fürs Wegbleiben erlebt wird oder – denn das mag es damals auch gewesen sein – für die eigene Hilflosigkeit.
Wir (ich hatte ja noch jüngere Geschwister) hätten jemanden gebraucht, der/die für uns da gewesen wäre. Jemanden, der/die gefragt hätte, wie es uns geht. Jemanden, der/die den Weg mit uns gegangen wäre statt uns alleine zu lassen.
Ja, ich kann es sage – die Kultur des Wegschauens und des Vertuschens in der Kirche – ich habe sie erlebt, hautnah und sehr persönlich (wenn auch nicht unter der Überschrift sexueller Missbrauch).
Das alles geht mir jetzt durch den Kopf, wenn ich die Aufrufe zum Gebet lese.
Was heißt das für heute? Ein Gebet ersetzt nicht das Handeln und das Dasein für andere – und das darf es auch nicht. Schließlich heißt es nicht „Wie oft du für die geringsten deiner Geschwister gebetet hast…“ sondern „Was du dem geringsten deiner Geschwister getan hast…“!
Das ändert nichts an meinem Gefühlswirrwarr, denn der Krieg ist da, die Lage bedrohlich, das Leben und die Freiheit für die Menschen in der Ukraine stehen auf dem Spiel.
Die Hoffnung aber, dass das nicht das Ende ist, die will ich mir erhalten. Die will ich teilen. Mit Dir. Und darüber hinaus.
Dabei fällt mir der Spruch „Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen“ ein. Es stammt wohl nicht – wie lange angenommen -von Luther. Aber das spielt keine Rolle.
Denn dieser Spruch verweist aufs Handeln. Und das – das braucht es jetzt!
|WERBUNG WEGEN NAMENSNENNUNG, UNBEZAHLT|

Einen gesegneten Sonntag – trotz allem!
Bild und Foto: © Judith Manok-Grundler, Überlingen
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