Themengeschichte 18: „… Erzähl-ein-Märchen …“

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Es war einmal ein kleines Mädchen, das lebte ganz allein mit seinem Vater, denn die Mutter war ihm früh gestorben. Das Mädchen – es hieß Rosina – war fromm und gut. Es besorgte das Hauswesen und half allen, die ihre Hilfe brauchten. Und, wann immer sie Zeit hatte und ihr Vater es nicht bemerkt, las sie. Denn sie war neugierig. Wollte wissen. Wollte verstehen.

Rosina wuchs zu einer jungen Frau heran. Zu einer Frau, so voller Schönheit, dass alle Menschen, die ihr begegneten, entzückt aufseufzten. Und immer noch war ihr Wesen so hell wie der Mond in einer Vollmondnacht.
Die Freier gaben sich die Klinke in die Hand, aber Rosina wies sie alle ab.

Eines Abends bestellte ihr Vater sie in sein Büro. „Rosina“, sprach er, „so geht das nicht weiter. Es wird Zeit, dass du heiratest und eine Bestimmung als Frau erfüllst. Das hätte deine Mutter auch gewollt.“ Er sah Rosina über seine Brille hinweg an.

Rosina knetete die Schürze. Trat von einem Fuß auf den anderen. Wankte ein wenig. Biss sich auf die Lippen. „Also, Rosina, ich bin mit meinem Freund Karl übereingekommen, dass du seinen Sohn Joseph ehelichen wirst. Das Datum haben wir festgesetzt – Freitag in sechs Wochen wird, im kleinen Familienkreis, geheiratet. Anschließend gibt es ein Mittagessen im Ratskeller und mittags ziehst du bei Joseph ein. Karl und Maria wollen sich zurückziehen und Josef braucht eine Frau an seiner Seite, die das Hauswesen besorgen und für die Familie da sein kann. Wenn du magst, kannst du dir ein Kleid besorgen, auch, wenn es eigentlich unnötig ist“.

Der Vater griff zu seinem Stift und begann zu schreiben. Rosina konnte sich nicht rühren. Stocksteif stand sie vor ihres Vaters Schreibtisch. Sie schluckte. Wurde abwechselnd blass und rot.
Der Vater hob den Kopf. „Ist noch etwas? Mehr gibt es dazu nicht zu sagen!“
„Aber Vater“, wagte Rosina zu sagen, „du kannst mich doch nicht verschachern wie bei einem Kuhhandel. Ich will Joseph nicht heiraten. Ich liebe ihn nicht!“
„Schluss jetzt, keine Diskussion!“ Der Vater wurde ganz leise. Da wusste Rosina, dass sie keine Chance hatte, angehört zu werden.

Rosina lief hinaus. Sie ließ sich auf die Bank unter dem Apfelbaum ihrer Mutter fallen und klagte dem alten Baum ihr Leid. „Dann geh“, brummte er und legte einen Zweig auf ihre Schulter. „Du wirst auch anderswo dein Auskommen finden. Pack nur das Nötigste ein und schau, dass du schnell wegkommst.“ Im Baum raschelte es. Ein Buch fiel in Rosinas Schoß. Es war dick. Glänzte wie die Sonne zur goldenen Stunde. Trug die Farben des Himmels und der Sterne.
„Ein Geschenk“, rauschte der Apfelbaum. „Nimm es mit, es wird dir den Weg weisen.“

Vorsichtig öffnete Rosina das Buch. Es war unbeschrieben. „Da steht ja gar nichts“. Wieder rauschte der Apfelbaum. „Sei unbesorgt, das, was du brauchst, wird das Buch dir zur rechten Zeit schenken. Geh jetzt, sonst erwischt dein Vater dich womöglich noch!“
Rosina sprang auf. Sie lief ins Haus und schnürte in Windeseile ihr Bündel. Sie nahm nur mit, was sie dringend brauchte und außerdem ihren Teddybären und das Bild der Mutter.

So zog sie los. Einfach der Nase lang wanderte sie durch die Welt. Ihr begegnete Schönes. Sie traf freundliche Menschen. Und sie fand Zwietracht, Streit und Hader. Es gab Menschen, die ihr übelwollten, aber mithilfe des magischen Buches fand sie immer Hilfe und einen Ausweg.

Sie half immer noch, wo sie konnte. Sie verdingte sich als Hausmädchen, als Gesellschafterin für eine alte Frau und erzog Kinder. Sie half der alten Bäckersfrau im Laden und pflegte einen alten Mann, der ganz allein auf der Welt war. Und immer wieder zog sie weiter. Von einem Ort zum anderen.

Wann immer sie Zeit hatte, las sie. Sie sprach mit weisen Frauen und Männern und hörte die Erzählungen aus alter Zeit. Sie erlernte die Heilkunst und lernte, immer mehr auf ihr Herz zu hören. So hatte sie ein gutes Leben und weil sie so freundlich war, wurde sie mit jedem Tag, der ins Land zog, schöner. Und noch immer wies sie jeden Freier ab.

Eines Abends tauchte in ihrem Buch eine Frage auf: „Warum weist du alle Männer ab, Rosina?“ Rosina stutzte. Wusste nicht gleich eine Antwort. Aber das Buch gab keine Ruhe. „Nun sag schon oder weißt du es etwa gar nicht?“
„Mir ist noch keiner begegnet, der mich gesehen hat. Sie sehen meine Schönheit, lieben die Farbe meiner Augen, wollen die Hand in meinen Locken vergraben. Sie loben mein Wissen, meine Freundlichkeit, meine Hilfsbereitschaft. Sie erzählen mir, wie wunderbar unser gemeinsames Leben sein wird und malen mit Worten Bilder von einem Heim, in dem ich sicher und geborgen vor der Welt geschützt bin und die Kinder erziehe.
Aber noch nie hat einer gefragt, wovon ich träume. Wonach ich mich sehne. Was Liebe für mich bedeutet. Keiner, gar keiner, wollte je wissen, was ich mir vom Leben erhoffe. Sie sehen nur, was sie brauchen – aber nicht mich!“

Rosina schwieg. Schaute ins Buch. „Und, bist du jetzt zufrieden?“ Nichts passiert. Gerade, als Rosina das Buch schließen wollte, entdeckte sie einen roten Pfeil unten auf der aufgeschlagenen Seite. Sie blätterte um.
Langsam erschien ein Gesicht. Ein Männergesicht. Sein Lachen strahlte ihr entgegen. Rosina konnte nicht wegsehen. Das Gesicht prägte sich ihr ein. Und dann erschienen Worte: „Das ist der Mann, der dich sieht. Dich als die sieht, die du bist. Dich sieht, mit alldem, was dich ausmacht. Du brauchst ihn nicht zu suchen. Geh deinen Weg weiter und ihr werdet euch treffen. Und wenn er vor dir steht, dann weißt du tief in dir drinnen, dass du angekommen bist – und er weiß es auch.“Rosina klappte das Buch zu. Packte es vorsichtig ein. Lief leichtfüßig los.

Und wenn sie nicht gestorben sind, dann lieben sie sich immer noch.

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Erzähl ein Märchen – Dir oder sonst jemandem.

Foto: © Erwin Grundler, Überlingen

2 Kommentare
    • mutigerleben
      mutigerleben sagte:

      Lieber Werner,
      freut mich, dass es dir gefällt.
      Darfst du gern weitergeben (mit namen und Datum – es ist ganz neu; gestern erst entstanden). Und ich werde es meinen großen Enkeltöchtern geben, die sind 11 und 10 Jahre alt.
      Einen schönen Tag für dich
      Judith

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