#Writing Friday: Das sprechende Buch

Marlen schaut. Zwischen den Glas- und Betonbauten der Fußgängerzone wirkt das Haus, vor dem sie steht, fehl am Platz. Es ist dreistöckig, aber schmal. Ein Schaufenster, daneben eine Tür, rechts und links Mauerwerk. Das Fenster ist voller Bücher. An der roten Tür blättert die Farbe an manchen Stellen ab. Weder über dem Fenster noch an der Türe steht ein Name.

Marlen öffnet die Tür trotzdem. Sie geht hinein. Dunkelbraune, deckenhohe Regale ziehen sich rechts und links an den Wänden entlang. Gegenüber der Eingangstür ist der Durchgang zu einem weiteren Raum, links davon steht ein Schreibtisch mit einer Registrierkasse, wie Marlen sie nur aus Filmen kennt. Die Decke ist Stuckverziert. In der Mitte des Raumes hängt ein Kronleuchter, der den Raum mit Licht füllt.
Marlen geht an den Regalen entlang. Sie nimmt das ein oder andere Buch in die Hand, liest die Titel, blättert durch verschiedene Bücher.
Stille tropft von der Decke wie Regentropfen von Bäumen, wenn die Sonne nach einem Regenschauer wiederkommt.

Marlen geht durch den Durchgang. Der Raum ist dem ersten Raum ähnlich, so dass sie sofort durch den nächsten Durchgang geht. Der Raum, in den sie jetzt kommt, ist anders. Mittendrin, vor dem Fenster zum Hinterhof, stehen sich zwei hohe Lehnsessel, bezogen mit mitternachtsblauem Samt, gegenüber. Drei unterschiedlich hohe schmiedeeiserne Lesepulte stehen im Raum verteilt. Auf jeden befindet sich ein Buch. Ledergebunden. In verschiedenen Farben. Marlen nimmt sich das weinrote Buch und setzt sich in einen der Sessel.

„Schön, dass du hierher gefunden hast. Sei willkommen im Buchherzentraum“.
Marlen streicht über das Buch. „Begrüßt du alle Menschen so?“
„Nein“, antwortet das Buch. „Nur besondere Menschen – so wie du“.
„Ich bin doch nichts Besonderes?“, sagt Marlen.
„Doch“, antwortet das Buch und Marlen hebt den Kopf. „Weißt du das denn nicht?“
Marlen schüttelt den Kopf.
„Du musst wissen, dass nur manche Menschen diesen Ort finden. Nur die ganz besonderen Menschen greifen sofort nach mir. Und überhaupt: Ich rede nur mit besonderen Menschen.
„Aber warum mit mir? Was macht mich denn besonders? Ich habe nichts Großes vorzuweisen – weder beruflich noch privat. Ich habe keine Besitztümer, keinen Freundeskreis und schön bin ich auch nicht. Ich mag es nicht laut nicht und im Mittelpunkt stehen ist mir zuwider“.
„Um das alles geht es nicht, weißt du. Was dich besonders macht, ist die Wärme, die du ausstrahlst. Um es mit Saint-Exupéry  zu sagen: Man sieht nur mit dem Herzen gut. Du gehörst zu den Menschen, die das können. Das macht dich zu etwas Besonderem“.

Das Buch schweigt. Es wiegt schwer in Marlens Hand. Wärmt sie. Erfüllt sie mit Ruhe.
Und als sie viel später den Laden verlässt, fühlt sie sich größer als jemals zuvor.

 

|WERBUNG WEGEN NAMENSNENNUNG UND VERLINKUNG, UNBEZAHLT|

 

 

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Foto: © Erwin Grundler, Überlingen

 

 

#Writing Friday von https://readbooksandfallinlove.com/2021/04/27/schreibthemen-mai-2021-writingfriday/ Heute habe ich mich dafür entschieden: Marlen betritt einen alten Buchladen und entdeckt dabei ein sprechendes Buch. Beschreibe den Buchladen, die Stimmung und lass uns am Gespräch zwischen ihr und dem Buch teilhaben.

 

 

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