#Writing Friday: Dornröschen

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Hier kommt ein neuer Beitrag zum #WRITING FRIDAY von https://readbooksandfallinlove.com/category/meine-wochenaktionen/writing-friday/, den ich bei  https://kathakritzelt.com/ entdeckt habe. Heute lautet die Schreibaufgabe für mich: “Schreibe aus der Sicht von Dornröschen, die über 100 Jahre geschlafen hat und im Jahr 2019 erwacht“

 

„Oh Gott, was ist das?“ Ein lautes Zischen und Knallen reißt Dornröschen aus dem Schlaf. Ihr Herz klopft. Der Atem geht schnell. Sie reibt sich die Augen. „Wo bin ich?“ Wieder zischt es. „Was ist das bloß?“ Sie hält sich die Ohren zu. Schwingt die Beine aus dem Bett und will aufstehen. Aber ihre Füße tragen sie nicht. „Mach langsam, Kind“, hört sie ein leises Flüstern, das aus allen Ecken des Zimmers zu kommen scheint. „Du hast über 100 Jahre geschlafen. Lass dir Zeit und hab keine Angst: Ich helfe dir zurück ins Leben! Und das, was du hörst, ist ein Feuerwerk. Die Menschen feiern so den Beginn des neuen Jahres und wenn du dich umdrehst, kannst du die bunten Lichter draußen sehen“. Dornröschen nickt. „Ist gut“, murmelt sie und schaut den gelben, roten, weißen und grünen Farbschauern zu.

In den nächsten Tagen lernt sie, wieder zu gehen. Erst läuft sie im Zimmer hin und her. Dann schreitet sie durch die langen Flure des Schlosses und noch etwas später geht sie im Park spazieren. Von Tag zu Tag wird sie kräftiger und vor allem – sie erinnert sich. An Tage im Park mit anderen Prinzessinnen. An Spiele mit der goldenen Kugel. Daran, wie sie – wenn niemand hinsah – den Rock gehoben hat und über den blank polierten Boden der Ahnengalerie geschlittert ist. Bilder von Feierlichkeiten tauchen auf. Sie sieht weiß gepuderte Perücken. Reifröcke. Mit speisen gedeckte Tische. Funkelndes Kristall, in dem sich die Lichter unzähliger Kerzen gespiegelt haben. Sie sah Frauen und Männer. Die Männer lachten, redeten, fielen einander ins Wort. Sie rauchten, tranken, schmiedeten Pläne und taten wichtig. Die Frauen waren schön. Sittsam. Sie schwiegen und lächelten. Manchmal redeten sie leise miteinander.
Dornröschen erinnert sich daran, wie sie sich auf die Empore, die um den Ballsaal lief, geschlichen hatte. Aus ihrem Versteck hinter einer Säule hatte sie hinuntergeschaut. Sie spürt wieder die Enge, die sie bei diesem Anblick immer empfunden hat. Plötzlich fällt ihr auf, dass sie in all den Tagen nach ihrem Erwachen, noch keinen Menschen gesehen hat. Zwar ist die Waschschüssel jeden Morgen frisch gefüllt mit Wasser und der Tisch mehrmals am Tag reich gedeckt – aber all das geschieht wie von Zauberhand. „Ich muss hier raus“, sagt sie und lauscht andächtig dem Echo dieser Worte.
Nach einer Weile antwortet die körperlose Stimme: „Du hast recht, Dornröschen, es ist Zeit. Zieh dir aber etwas Anderes an, draußen fällst du sonst zu sehr auf“. Dornröschen geht in ihr Zimmer. Sie durchforstet ihren Kleiderschrank. Nur Röcke und Kleider, Seide, Spitzen, Rüschen und Satin. „Wo bekomme ich jetzt etwas anderes zum Anziehen?“, murmelt sie. Da fällt ihr der Küchenjunge ein. Und Schwupps, schon läuft sie zum Dienstbotentrakt, der genauso leer ist, wie das ganze Schloss. Sie eilt von Zimmer zu Zimmer. Öffnet Schrank um Schrank. Und dann hält sie eine karierte Hose und eine weiße Jacke in der Hand. Schlüpft hinein. Stopft die zu großen Schuhe mit Socken aus. Zieht einen Wolljanker über und verlässt das Schloss durch den Dienstboteneingang.

Je länger sie läuft, desto voller werden die Straßen. Statt Pferden gibt es Blechkisten, die die Straßen verstopfen. Es hupt und kreischt und dunkler Rauch steigt hinten an den Kisten hoch. Menschen bewegen sich auf zwei Rädern, Hunde rennen durch die Straßen. Viele Frauen rauchen. Sind ohne Mann unterwegs. Sprechen von der Arbeit. An den Häusern entlang führt ein graues Band. Da sind viele Menschen. Und die Häuser. Die sind so groß, dass sie das Dach nicht sehen kann. Dornröschen steht und schaut. Läuft und schaut. Immer abwechselnd. „Puh, das ist alles so anders, das kenne ich gar nicht!“ Sie schüttelt den Kopf. Irgendwann kommen ihr einige Kinder entgegen. „Prinzessinnen und Prinzen sind das nicht“, denkt sie. Trotzdem geht sie mutig hin und sagt zu einem Mädchen: „Magst du mit mir am Teich spielen?“

„Sheeeesh[1]“, antwortet die und lacht. Sie dreht sich den anderen zu, zeigt auf Dornröschen und sagt: Boah, ey, guck mal – ein kleiner Snackosaurus[2]“. Die anderen lachen auch. Dornröschen dreht sich um. „Nur weg von hier“, sagt sie und rennt los. „Ich versteh gar nicht, was die sagen. Und wie die aussehen! Die Jungs haben Hosen, aus denen ein Gutteil des Popo herausschaut. Alle Hosen haben Löcher und Risse. Auf den Armen gibt es farbige Zeichnungen und die Mädchen sind dürr. „Nur Haut und Knochen“, hätte Oma, Prinzessin von Fern und Nah, dazu gesagt. Irgendwo gehen eine Gruppe Jungs und Mädchen aufeinander los. Es wird geschrien, getreten und geboxt, bis Blut fließt und ein Blechdings mit blauen Lichtern kommt. Stinkende braune Haufen liegen da, wo die Menschen gehen.
Dornröschen läuft weiter. Viele Menschen begegnen ihr, die haben Stöpsel in den Ohren und schauen auf etwas, das gerade in eine Hand passt. Es piept. Läutet. Liedfetzen hängen in der Luft. Aber keine, die Dornröschen kennt. Die Menschen haben die Köpfe gesenkt. Und Dornröschens freundliches „Gott zum Gruße“, scheint niemand zu verstehen. Ein paar Mal noch versucht Dornröschen, jemanden anzusprechen – aber sie hat keinen Erfolg. Es ist, als wäre sie gar nicht da. Als sähe jede und jeder nur sich und das eigene Ziel.

Dornröschen läuft und läuft. Kommt an bunten Blumenbeeten vorbei. Geht durch einen Park. Entdeckt Blumenrabatten. Eine alte Linde. Eine noch ältere Eiche. Dann kommt sie an einen See. Enten schwimmen dort. Die kennt sie, alles andere auf dem Wasser ist ihr unbekannt. „Das sind Schiffe, die fahren dich über den See, wenn du willst“, erklärt ihr eine alte Frau, die auf der Bank am Ufer sitzt. „Da gibt es verschiedene: Ruderboote, Segelschiffe, Motorboote…“
„Aber, wozu ist das gut?“, will Dornröschen wissen. „Zum Vergnügen, mein Kind, nur zum Vergnügen“.
„Aber, da gibt es doch kein Vergnügen. Da redet niemand. Die Lachen nicht. Und schauen nicht. Sie sitzen bloß da und starren in das Ding“.
„Tja, so ist das heutzutage. Das ist, ehrlich gesagt, auch nicht mein Fall. Aber ändern kannst du die Menschen nicht, du kannst es nur für dich anders machen!“
„Ist das schwer?“, will Dornröschen wissen. „Ach, Kind“, sagt die Alte. „Es ist nie ganz leicht, den eigenen Weg zu gehen, aber es lohnt sich bestimmt. Nur merkt man das manchmal nicht gleich. Und weißt du, gegen alles kannst du dich auch nicht stellen. Aber du kannst herausfinden, was dir und den Menschen um dich herum guttut. Es geht darum, das Leben ein klein wenig besser zu machen. Schau, ich habe gesehen, wie freundlich du den Menschen begegnet bist. Und auch, wenn viele darauf nicht reagieren, so machst du doch den Tag ein wenig heller, auch für dich. Denk daran: Diene dem Leben und lass dich nicht vor den Karren des <Immer mehr> sperren. Ich weiß, dass du das kannst“. Dornröschen lässt sich neben die Alte auf die Bank sinken. „Woher weißt du das? Du kennst mich doch gar nicht?“

„Oh doch, mein Kind, oh doch. Ich bin die 12. Fee. Und so, wie ich über deinen Schlaf gewacht habe, wache ich jetzt über dein Leben!“

 

IMG-20190919-WA0000.jpg

 

Was würde Dein Dornröschen entdecken?



Foto: Erwin Grundler, Überlingen-Aufkirch


[1] Jugendsprache: Nicht dein Ernst.
[2] Jugendsprache: Verfressener Mensch – siehe:
https://www.hna.de/welt/jugendwort-2018-voting-onl-10181038.html
10 Kommentare
  1. Buchperlenblog
    Buchperlenblog sagte:

    Hallo Judith!
    Eine wirklich tolle Geschichte, und ich glaube, genau so würde es Dornröschen wohl tatsäxchlich ergehen, wenn sie heute aufwachen würde. Und wenn man es so betrachtet, leben wir in einer ziemlich scheußlichen Welt. Manchmal wünsche auch ich mich zurück an einen märchenhafteren Ort.

    Alles Liebe!
    Gabriela

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    • mutigerleben
      mutigerleben sagte:

      Liebe Gabriela,

      ich danke dir für deinen Kommentar.
      Ja, da hast du schon recht – das wäre das Erste, was Dornröschen feststellen würde, vor allem halt auch, weil es einfach so anders ist, als das, was sie kennt.
      Ich glaube allerdings, dass sie – je länger sie hier wäre – auch auf tolle Menschen, Begeisterung, Lebendigkeit stoßen würde und an märchenhafte Orte käme. Aber das wäre eine andere Geschichte.

      Dir auch alles Liebe und sonnige Grüße
      Judith

      Antworten
  2. blaupause7
    blaupause7 sagte:

    Ja, genauso fühle ich mich manchmal wenn ich sehe, wie viele herumlaufen – wie ferngesteuert, von allen anderen abgeschottet und ohne Blickkontakt zu anderen. Traurig macht mich sowas.

    Antworten
    • mutigerleben
      mutigerleben sagte:

      Guten Abend zu dir,
      ich find’s manchmal auch zum Davonlaufen – vor allem, wenn ich sehe, wie viele junge Kinder da schon dabei sind…
      Und dennoch: Wie ich oben schon sagte: Dornröschen würde sicher auch noch das Schöne entdecken – vielleicht gibt das ja mal eine Fortsetzung.
      Ich schau später mal bei dir vorbei, jetzt darf erst noch ein Brot in den Ofen.
      Herzliche Abendgrüße
      Judith

      Antworten
  3. Rina
    Rina sagte:

    Das hast du sehr schön gelöst. So muss es einem einfach gehen, wenn man nach 100 Jahren aufwacht. Ein Schock. Überall Laut und stinkt und so viel Menschen und doch keiner da. Schon traurig, dass keiner auf einen netten Gruss hört.
    Sehr gut geworden.

    LG

    Antworten
  4. mutigerleben
    mutigerleben sagte:

    Hab ganz lieben Dank für deine Rückmeldung.
    Mir war es wichtig, den Gegensatz herauszuarbeiten – und, vielleicht gibt es ja auch eine Fortsetzung.
    Ja, dass niemand den Gruß hört, ist ebenso erschreckend wie die Info, dass niemand grüßt. Hier https://mutigerleben.wordpress.com/2019/05/26/ein-ueberraschendes-danke-schoen/ – das ist mir in diesem Jahr begegnet.
    Einen feinen Abend wünsch ich dir und einen wundervollen Sonntag voll Herbstzauber, auch wenn der Herbst offiziell erst Montag beginnt.
    Ganz liebe Grüße zu dir
    Judith

    Antworten
  5. stachelbeermond
    stachelbeermond sagte:

    Sehr schön, die Geschichte, vor allem der Unterschied zwischen früher und heute und der Schluß. Ich bin nicht ganz so pessimistisch, was das heute betrifft – das Gestarre aufs Handy nervt mich zwar auch, aber im Großen und Ganzen bin ich sehr froh, heute zu leben und nicht vor hundert Jahren (außer ich dürfte Erfinderin, Schriftstellerin oder Literatursaloninhaberin um 1900 sein – leider seeehr unwahrscheinlich! :) )

    Antworten
    • mutigerleben
      mutigerleben sagte:

      Danke dir für die Rückmeldung.
      Da hast du recht, ich würde auch ungern im Jahr 1919 leben… Und ich bin auch nicht so pessimistisch, wie es hier erscheinen mag – nütze das Handy ja auch. Aber beim Schreiben dachte ich, dass das vermutlich das Allererste wäre, was auffiele – neben Autos, vollen straßen und einer großen Lautstärke.
      Ich habe schon in einem Kommentar geschrieben, dass dornröschen sicher auch viel Positives fände, wenn sie erst noch einmal eine Zeitlang hier ist.
      Und vielleicht schreibe ich ja wirklich eine Fortsetzung.
      Lass es dir gut gehen und sei herzlich gegrüßt
      Judith

      Antworten
  6. Katharina
    Katharina sagte:

    Eine sehr akurate Beschreibung der Gegenwart, wenn auch recht düster. Ich glaube die Menschen sind wachsamer, als man ihnen zutraut. ;) Auf jeden Fall toll geschrieben. Ich bin auch für eine Fortsetzung.
    Btw. wo hast du denn diese Worte ausgegraben? Super lustig.
    Grüße, Katharina

    Antworten
    • mutigerleben
      mutigerleben sagte:

      Liebe Katharina,
      danke für deine Rückmeldung.
      Ja, ich bin – wie gesagt – normalerweise auch deutlich positiver. Aber ich dachte beim schreiben auch, dass ihr sicher nach so langer Zeit erst all das auffallen wird, was sie überhaupt gar nicht kennt. Mal sehen, wann es mit der Fortsetzung klappt – ihr könnt sie dann auch hier lesen…
      Ich habe nach Jugendsprache gegoogelt – und ich wusste echt nicht, dass sich Menschen so unterhalten; ich fands auch lustig.
      Abendgrüße
      Judith

      Antworten

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