#Writing Friday: Plötzlich fliegen können

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Hier kommt ein neuer Beitrag zum #WRITING FRIDAY von https://readbooksandfallinlove.com/category/meine-wochenaktionen/writing-friday/, den ich bei  https://kathakritzelt.com/ entdeckt habe.
Heute lautet die Schreibaufgabe für mich: „Du kannst plötzlich fliegen. Würdest Du jemandem davon erzählen? Was tust Du mir dieser neuen Fähigkeit?

 

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Plumps. Der Aufprall auf dem Boden ist hart. Ich stöhne. Reibe mir die Augen. Schaue mich um. „Wo bin ich hier und – viel wichtiger, wie bin ich hierher gekommen? Vorhin saß ich doch noch ganz gemütlich auf meinem Balkon und schaute den Segelbooten auf dem See zu“.
Ich rapple mich hoch. Ächze und stöhne laut. Reibe mir das schmerzende Steißbein.  Unvermittelt ertönt eine Stimme von irgendwo hinter mir: „Die Landung musst du aber noch üben. Das halte ich nicht aus, wenn ich jedes Mal so hart lande“!
Ich sehe nach unten und oben, nach rechts und nach links, nach vorne und hinten. Nichts. „Hast du mich verstanden?“, tönt es da wieder von hinten. Ich fahre herum. Nichts. Niemand ist zu sehen. Gänsehaut überläuft mich. Schritt für Schritt beginne ich fortzuschleichen. „He, he, du kannst ruhig bleiben. Ich tu dir doch nichts. Ich sagte nur, du müssest die Landung noch üben“.
„Wie? Das Landen üben. Was genau meinst du denn“?
„Schätzchen, guck dich um: Wo bist du hier und was meinst du, wie du an diesen Ort gekommen bist“?

Ich schließe die Augen. Öffne sie wieder. Höre und sehe das Meer vor mir. Hinter mir auf der Deichkrone sind Menschen. Große und Kleine. Sie gehen spazieren. Manche joggen. Andere stehen da und schauen über das Meer. Auf dem Grün liegen träge Schafe. „Das sieht nach Meer aus. Nordsee, vermute ich“.
„Sehr richtig, Schätzchen, sehr richtig. Was glaubst du wohl, wie du hierher gekommen bist? Meinst du etwa, da reicht Hokuspokus aus? Nein, nein, Schätzchen, du wurdest auserwählt und kannst jetzt fliegen. Ab heute kannst du fliegen, wann du willst und wohin du willst. Wenn du magst, erreichst du sogar die entlegensten Winkel der Erde in Schallgeschwindigkeit. Die Sache hat nur einen Haken: Du darfst niemandem davon erzählen und du musst jeweils nach 24 Stunden zurück zu Hause sein“.

Ich schlucke. „Das sind zwei Haken“, antworte ich meinem unsichtbaren Gegenüber. „Ja, ja, wie auch immer“, bekomme ich zur Antwort. „Zukünftig wirst du dich mehr auf deine Intuition verlassen müssen als auf deinen Verstand, sonst gelingt die Fliegerei nicht. Wähle sorgfältig, wie du diese Fähigkeit einsetzt“.
Ich bin still. Dann frage ich ins Blau hinein: „Woher soll ich denn wissen, wozu das gut ist? Gibt es Kriterien? Aufgaben, die zu erledigen sind? Eine Liste mit Vorgaben? Befehle oder Prüfungen“?
Ich höre es seufzen. „Immer schön locker bleiben. Ich sagte doch, deine Intuition wird dich leiten. Du musst ihr nur zuhören – dann findest du heraus, worum es geht“.

Die Stimme schweigt. Ich auch. Ich habe keine Ahnung, was ich von all dem halten soll. „Ach, wäre ich doch nur auf meinem Balkon!“, murmle ich. Und plötzlich schwebe ich über dem Deich. In einem Affenzahn sause ich durch die Luft und sitze wenig später auf meinem Balkon. Ich schüttle mich. Der Kopf brummt. Die Welt um mich herum dreht sich. Ich schließe die Augen. Blende alle Außen Geräusche aus. Ganz unvermittelt steigt in meiner Brust ein Prickeln auf. Es dehnt sich aus. Zerfasert. Dahinter wird ein Bild sichtbar. Ich sehe eine Frau an einem Tisch sitzen. Tränen laufen über ihr blasses Gesicht. Ihre Finger ziehen und zerren an einem Taschentuch. „Sie braucht jemanden, der sie tröstet“, schießt es mir durch den Kopf und schon schwebe ich wieder in der Luft.
Plumps. Ich lande neben ihr. Sie kann mich weder sehen noch hören. Ich flüstere ein „Ich bin bei dir, du bist nicht allein“ und harre aus, bis das Schluchzen verebbt ist. Da streiche ich ihr noch einmal über den Rücken, sage „ich komme wieder“ und fliege zurück auf meinen Balkon.

In den nächsten Wochen kommt das Prickeln fast täglich. Ohne zu zögern, besuche ich erschöpfte Mütter und einsame Alte. Trauernde Witwen und junge Mädchen, die unter dem ersten Liebeskummer leiden. Kleine Mädchen, die sich alleine in den Schlaf weinen und alleinstehende Frauen, die unter der Berufslast fast zusammenbrechen. Ich treffe Frauen, die voller Wut und Zorn sind. Solche, denen die Angst über den Kopf wächst. Frauen, die längst resigniert haben und Frauen, die wie Löwinnen kämpfen. Alle, alle werden von mir besucht. Ich schenke ihnen ein offenes Ohr, nehme sie ernst, helfe ihnen, ihre Bedürfnisse zu erkennen, lasse sie wüten, tröste sie, halte sie, bin bei ihnen. So erlebe ich leichte, schwere, bunte, vielfältige Frauenleben und meine Achtung vor der Lebensleistung von Frauen wächst ins Unermessliche.

Langsam, ganz langsam, verändert sich etwas. Ich treffe auf Frauen, die vor Freude tanzen. Frauen, deren Begeisterung andere ansteckt. Optimistische, fröhliche Frauen, die Leichtigkeit säen. Frauen, die sich nicht sattsehen können an den kleinen Dingen des Alltags. Frauen, deren Dankbarkeit mit Händen zu greifen ist.
„Diese Frauen sollten auch fliegen können“, sage ich ins Blaue, als ich eines Tages wieder auf meinem Balkon sitze.
„Da hast du recht“. Aus heiterem Himmel ist die Stimme wieder da. „Es gibt noch so viel zu tun auf dieser Welt“!

Von da an flog ich nie mehr wieder. Aber manchmal, wenn ich auf dem Balkon sitze und in den Tag träume, dann kann ich sie sehen und fühlen – die Frauen, die ihr Leben mit anderen teilen. Und wie ein Engelsflügel streift mich ihr Hauch.

 

Was würdest Du tun, wenn Du plötzlich fliegen könntest?



© Judith Manok-Grundler, Überlingen-Aufkirch, 20.06.2019
Foto: Erwin Grundler, Überlingen-Aufkirch
10 Kommentare
  1. Rina
    Rina sagte:

    Sehr schöne Idee – eine tolle Aufgabe, wenn man fliegen kann. Nur schade, dass sie dann nicht mehr an der Freude teilnimmt – aber der Satz „Und wie ein Engelsflügel streift mich ihr Hauch.“ ist ein wunderschönes Ende für diese Geschichte.

    Ein schönes Wochenende

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  2. mutigerleben
    mutigerleben sagte:

    Danke dir, Rina.
    Die Freude und Begeisterung lebt sie weiter und sie wird davon getragen. Es war von mir eher so gedacht, dass sie die Aufgabe weitergibt und damit all dies, was sie getan hat, verstärken kann. Und wenn ich die Geschichte weiterdenke, geben irgendwann auch diese Frauen ihre Fähigkeit an andere weiter und so setzt sich das immer fort.
    Freitagsgrüße
    Judith

    Antworten
  3. Katharina
    Katharina sagte:

    Eine super Idee und eine wirklich schöne Geschichte. Anscheinend profitieren nicht nur die Besuchten von der Fähigkeit. Deine Protagonistin wirkt am Ende auch gestärkt.
    Grüße, Katharina

    Antworten
    • mutigerleben
      mutigerleben sagte:

      Ich danke dir herzlich. Ich setze mich seit vielen Jahren für Zusammenhalt und Unterstützung von und zwischen Frauen ein.
      Ja, und ohne den letzten Satz wäre es nicht gegangen.
      Herzliche Abendgrüße
      Judith

      Antworten
  4. mutigerleben
    mutigerleben sagte:

    Liebe Elizzy,
    Danke dir. Es tut gut, das zu hören. Ich staune immer wieder, wie sich die Geschichten entwickeln, wenn ich im Schreibfluss bin. Irgendwo habe ich mal gehört, das Ende einer Geschichte müsste feststehen, wenn man zu schreiben beginnt. Das ist bei mir selten so. Und bei dir?
    Herzliche Wochenendgrüße
    Judith

    Antworten
  5. LeseWelle
    LeseWelle sagte:

    Hallo Judith,
    das ist eine sehr schöne Umsetzung des Themas. :D
    Eine Geschichte mit viel Emotionen, die mir richtig gut gefallen hat.
    Liebe Grüße
    Diana

    Antworten

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