#Writing friday: Verzauberung

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Hier kommt ein neuer Beitrag zum #WRITING FRIDAY von https://readbooksandfallinlove.com/category/meine-wochenaktionen/writing-friday/, den ich bei  https://kathakritzelt.com/ entdeckt habe.
Heute lautet die Schreibaufgabe für mich:
„Schreibe eine Geschichte und flechte folgende Wörter ein:
Baum, Schneckenhaus, grasgrün, Gelächter, Buch.

 

Emma sitzt im Schatten eines alten Lindenbaums. Mit ihrem grasgrünen Kleid fällt sie zwischen dem hohen Gras kaum auf. Um sie herum wachsen einige versprengte Ähren vom benachbarten Weizenacker, blaue Kornblumen und ein paar Margeriten. Obwohl Letztere Emmas Lieblingsblumen sind, hat sie heute kein Auge für sie. Auch der Duft der Lindenblüten, das Tschilpen einer Spatzenfamilie und das Gelächter aus dem Nachbarsgarten erreichen sie nicht. Denn Emma liest. Sie ist völlig versunken in ihrem Buch, das Onkel Jens ihr vor drei Wochen geschenkt hat. Seither kann sie das Buch kaum aus der Hand legen.

Das Buch hat die Form eines Schneckenhauses. Jedes Mal, wenn Emma das Buch aufschlägt, wird sie in das Innere hineingezogen. Dann wird das Schneckenhaus wie von Zauberhand so groß, dass sie aufrecht darin herumlaufen kann. Oder, wer weiß, vielleicht wird sie auch immer kleiner und sie spürt es nur nicht? Einerlei. Emma hat ihre Freude an diesen Abenteuern und kann gar nicht genug davon bekommen.
Heute ist sie in einem Spiegelkabinett gelandet. Sie hüpft von Spiegel zu Spiegel und sieht sich mal ganz lang, ein anderes Mal klein und dick, verzerrt oder ganz klar. Hin und wieder bleibt sie vor einem Spiegel stehen: Sie schneidet Grimassen oder tanzt und singt. Sie schaut sich die verschiedenen Spiegel an und geht tiefer und tiefer in die Gänge hinein. Je weiter sie kommt, desto weniger Spiegel werden es – bis zu guter Letzt ein einziger Spiegel übrigbleibt. Er ist groß, viel größer als sie und steckt in einem goldenen Rahmen.
Plötzlich beginnt der Spiegel zu summen. Leise klingt die Melodie von „Weißt du wieviel Sternlein stehen …“ durch das Schneckenhaus. „Omas <Gute-Nacht-Lied>“ geht es Emma durch den Kopf. „Aber Oma ist hier doch nirgends!“ Sie schaut sich um. Läuft dann auf den Spiegel zu. Erst, als sie ganz nahe ist, hört das Singen auf.
Emma schaut in den Spiegel. Sofort verwandelt sich ihr Bild in das einer steinalten Frau. Als Erstes fallen Emma wirre, ungekämmte, weißsilberne Haare auf. Sie umrahmen ein blasses Gesicht. Tiefe Falten durchziehen das Gesicht wie Ackerfurchen. Die schmalen, hellrosa Lippen, bringen auch keine Farbe ins Gesicht. Aber die Augen. Die Augen leuchten. Grün. Wie vergoldetes Herbstwiesengrün. Emma kann sich von diesen Augen nicht losreißen. Es ist, als ob sie in sie hineinsehen könnten.

„Hallo, Emma, ich bin dein Zukunfts-Ich. Schön, dass du da bist!“
Emma stutzt. „Wie jetzt? Du meinst, so wie du jetzt werde ich später einmal aussehen?“
Das Zukunfts-Ich kichert. „Hast du etwas dagegen?“
„Nein, nein, ich bin nur überrascht. Was brauche ich denn, um so alt zu werden? Und worauf muss ich achten? Du kannst mir doch sicher sagen, was alles auf mich zukommt“.
Eine Weile schweigt das Zukunfts-Ich, dann hebt es den Kopf. Sein Blick geht Emma durch und durch. „Nein, kleine Emma. Das kann ich nicht. Ich kann dir nur sagen, was für dich und deinen Lebensweg wichtig ist. Deine Aufgabe ist es, dir deine Neugier und Fröhlichkeit zu erhalten – auch wenn Menschen dir das abgewöhnen wollen. Wenn du an dich glaubst, an deinen Wert, an dein Können, an deine Einzigartigkeit, an deine Träume und all das zum Lebensmaßstab für dich machst, dann lebst du glücklich. Und dann wirst du so gütig und weise alt werden, wie du es hier siehst“. Das Zukunfts-Ich schweigt. Es sieht Emma an.
Mit gerunzelter Stirn schaut Emma ihr Zukunfts-Ich an. „Aber das ist schwer“, sagt sie leise.
„Ja, Liebes, ja, das ist es tatsächlich. Und es bedeutet, dass du andere Menschen immer wieder mit deinem „Emma-Sein“ vor den Kopf stoßen wirst. Aber das gehört dazu. Weißt du, bisweilen wirst du dich damit schwertun, deinen eigenen Wert zu erkennen. Ein anderes Mal kann es passieren, dass du die Spur deiner Träume aus den Augen verlierst, weil es Ablenkungen gibt oder du Erwartungen von anderen erfüllen willst. Du wirst Angst vor Ablehnung haben und vor dem ausgeschlossen sein. Aber das alles gehört dazu. Das bedeutet nicht, über Leichen zu gehen. Nein, es heißt einfach, dass das DEINE zum Richtungsweiser wird und zur Grundlage für dein Leben. Denn siehst du, wenn du deinen Wert, deine Einzigartigkeit, deine Träume und deine Ziele kennst und akzeptierst, dann wirst du das auch bei den anderen tun. Und dann ist es an den anderen zu entscheiden, ob sie sich daran ein Beispiel nehmen wollen oder nicht. Das liegt nicht in deiner Verantwortung, meine Kleine. Vergiss nie, diejenigen fühlen sich am meisten vor den Kopf gestoßen, die ihre Träume längst begraben haben, und zwar so tief, dass sie nichts mehr davon wissen. Aber du, liebe Emma, du bist auf einem guten Weg!“

Emma schaut ihrem Zukunfts-Ich fest in die Augen: „Wirst du mir auf diesem Weg helfen?“ Das Zukunfts-Ich lächelt Emma an. „Aber sicher – ich bin die Wächterin deiner Träume und ich verspreche dir, dass ich dich immer darauf aufmerksam machen werde, wenn du dich ihnen entfernst“.

Noch bevor Emma etwas antworten kann, ist das Gesicht verschwunden. Im Spiegel entdeckt Emma nur noch sich. „Viel zum Nachdenken“, murmelt sie und macht sich auf den Rückweg.

Der Duft der Linden hüllt sie ein.

 

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Geschichte: © Judith Manok-Grundler, 03. 07.2019
Foto: Erwin Grundler, Überlingen-Aufkirch
8 Kommentare
  1. elizzy91
    elizzy91 sagte:

    Toll was du mit den Wörtern gemacht hast! Dein Schreibstil gefällt mir richtig gut ich konnte mir die Szene nur allzu gut vorstellen! Danke fürs teilen <3

    Antworten
  2. blaupause7
    blaupause7 sagte:

    Mich fasziniert die Vorstellung, in ein solches Buch hineingezogen zu werden, und ich musste dabei an ein bestimmtes Kapitel in Haruki Murakamis Roman 1Q84 denken, den ich zur Zeit lese.

    Antworten
  3. Katharina
    Katharina sagte:

    Wie schön und zauberhaft. Könnte auch die Geschichte zu einem illustrierten Kinderbuch sein. Die Bilder, die du erschaffst, sind sehr lebendig.
    Grüße, Katharina

    Antworten
  4. mutigerleben
    mutigerleben sagte:

    Liebe Katharina,
    danke dir.
    Das ist eine gute Idee, vielleicht sollte ich mich auf die Suche nach einer Illustratorin begeben? Ich denke mal darüber nach.
    Herzliche Grüße
    Judith

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  5. mutigerleben
    mutigerleben sagte:

    Danke dir. Ich habe ja noch nicht so lange begonnen, hier mitzuschreiben – ich glaube Ende Mail Bislang hatte ich sehr viel Freude dabei. Du warst früher schon dabei?
    Liebe Grüße zu dir, Corly,
    Judith

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